Wanderungen durch die Mark Brandenburg
bis ins elfte Glied.
Und dann:
Und nun kommt der, welcher dich, Lehnin, nur all-
zusehr haßt,
Wie ein Messer dich zerteilt, ein Gottesleugner, ein
Ehebrecher,
Er macht wüste die Kirche, verschleudert die Kir-
chengüter.
Geh, mein Volk: du hast keinen Beschützer mehr,
Bis die Stunde kommen wird, wo die Wiederherstel-
lung (restitutio) kommt.
Die Vorgänge in der Mark in dem zweiten Viertel des
sechzehnten Jahrhunderts, der Übertritt Elisabeths
1695
zur neuen Lehre und die Aufhebung der Klöster
durch Joachim II., der die Axt an den Stamm legte,
konnten, wir wiederholen es, vom katholischen
Standpunkt aus, nicht zutreffender und in nicht bes-
serem Prophetenton geschildert werden. Aber zuge-
geben, daß – wie die Angreifer erwidern – der Ver-
fasser im Jahre 1690 gut phrophezeien hatte in
betreff von Vorgängen, die 150 Jahre zurücklagen,
warum, so fragen wir, prophezeite er teils falsch,
teils dunkel in betreff so vieler anderer Vorgänge,
die, wenn 1690 die Scheidelinie ziehen soll, ebenfalls
der Vergangenheit angehörten. Nehmen wir ein Bei-
spiel statt vieler – die Verse, die sich auf George
Wilhelm, also auf die Epoche während des Dreißig-
jährigen Krieges beziehen. Es sind die folgenden:
Nach dem Vater ist der Sohn Herr des Markgrafentums.
Er läßt nicht viele leben nach ihrem Sinne, ohne sie zu strafen.
Indem er zu stark vertrauet, frißt der Wolf das arme Vieh ,
Und es folgt in kurzem der Diener dem Herrn im Tode.
Die vierte Zeile ist auf den Tod Adam Schwarzen-
bergs gedeutet worden, wogegen sich nichts sagen
läßt. Der Inhalt dieser Zeile träfe also zu. Aber die
zweite und dritte geben, wenn man das auch hier
vorhandene Dunkel durchdringt, eine Charakteristik
der Zeit sowohl wie des Mannes, wie sie nicht leicht
falscher gedacht werden kann. Wenn es umgekehrt
hieße: »Er ließ alle leben nach ihrem Sinne, ohne sie
zu strafen«, und »er vertraute (da er bekanntlich
1696
immer schwankte) nicht stark genug « – so würden diese Sätze um vieles richtiger sein als die, die jetzt dastehen. Wo bleibt da das bequeme Prophezeien
nach rückwärts?1)
Vergleichen wir nun damit die Prophezeiungen der
zweiten Hälfte , der Epoche nach 1690, wo also der Dichter, selbst wenn er um 1690 schrieb, jedenfalls
gezwungen war, in die Zukunft zu blicken.
Über Friedrich den Großen2) heißt es, wie nicht ge-
leugnet werden soll, mehr dunkel und anklingend als
scharf zutreffend:
In kurzem toset ein Jüngling daher, während die
große Gebärerin seufzt;
Aber wer wird vermögen, den zerrütteten Staat wie-
derherzustellen?
Er wird das Banner erfassen, allein grausame Ge-
schicke zu beklagen haben,
Er will beim Wehen der Südwinde sein Leben den
Festungen vertraun.
oder (nach anderer Übersetzung):
Weht es von Süden herauf, will Leben er borgen den
Klöstern.
Dann (Friedrich Wilhelm II.):
1697
Welcher ihm folgt, ahmt nach die bösen Sitten der Vä-
ter,
Hat nicht Kraft im Gemüt, noch eine Gottheit im Volke.
Wessen Hülf' er begehrt, der wird entgegen ihm stehen,
Und er im Wasser sterben, das Oberste kehrend zuun-
terst.
Dann (Friedrich Wilhelm III.):
Der Sohn wird blühen; was er nicht gehofft, wird
er besitzen.
Allein das Volk wird in diesen Zeiten traurig
weinen;
Denn es scheinen Geschicke zu kommen sonder-
barer Art,
Und der Fürst ahnet nicht, daß eine neue Macht
im Wachsen ist .
Niemand, der vorurteilslos an diese Dinge herantritt,
wird in Abrede stellen können, daß ganz speziell in
den letzten acht Zeilen Wendungen anzutreffen sind,
die von einer frappierenden Zutreffendheit sind, so
zutreffend, daß in der ganzen Weissagung nur eine
einzige Stelle ist: jene acht Zeilen, die sich auf Joa-
chim I. und II. beziehen, die an Charakterisierung
von Zeit und Personen damit verglichen werden kön-
nen. Wenn auch hier ausweichend geantwortet ist,
es handle sich in allen dreien um bloße Allgemeinhei-
ten, so ist das teils nicht richtig, teils bezeichnet es den Charakter der ganzen Dichtung überhaupt,
1698
gleichviel, ob dieselbe Nahes oder Zurückliegendes in
Worte faßt.
Es ist nach dem allem nicht zu verwundern, daß der
Streit über die Echtheit nach wie vor schwebt und
daß die Weissagung, selbst unter den Protestanten,
die verschiedensten Urteile erfahren hat. Küster
nennt das Vaticinium einfach ein »Spiel des Witzes«
(lusus ingenii); Guhrauer bezeichnet es als eine la-
konisch-orakelmäßige
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