Wanderungen II. Das Oderland.
in der vollen Überzeugung, daß Klöden recht gehabt habe, als er die Existenz einer Stadtstelle bestritt. Aber dieser Eindruck ist nicht von Dauer. Unser kundiger Führer führt uns an ein Gestrüpp von Elsbusch und Brombeerstrauch und sagt dann, auf eine Steinlinie zeigend, die kaum fußhoch aus der Erde hervorragt: » Dies ist die Kirche .« Wir antworten zunächst mit einem halb verlegenen Lächeln. »Hier können Sie den Kalk sehen«, fährt er fort, ein Stück Mörtel aus den Fugen losstoßend, und indem wir uns nunmehr niederbeugen und das Kalkstück in die Hand nehmen, erkennen wir mit denkbar größter Bestimmtheit, daß wir hier nicht eine aufgeschüttete Einfriedigung, sondern ein in die Tiefe gehendes, gemauertes Fundament vor uns haben. Auf einen Schlag sind wir überführt. Wir verfolgen nun die Steinlinie, kommen an einen Eckstein, endlich an einen zweiten und dritten und überblicken das Oblong. Alle Zweifel sind geschwunden, und wir sehen klärlich, daß hier ein Gebäude gestanden hat. Die Fundamente liegen da. Ob Kirche oder Rathaus, ist gleichgültig. Höchstwahrscheinlich eine Kirche.
Unser Führer erkennt sehr wohl die Umwandlung, die mit uns vorgegangen. »Ich werde Sie nun zu dem großen Brunnen führen«, murmelt er gleichgültig vor sich hin, aber mit erkünsteltem Gleichmut, denn diese »Stadtstelle« ist sein Stolz. Und inmitten eines Stück Roggenlandes, dessen Halme kaum erst handhoch aus der Erde ragen, stehen wir alsbald vor einem jener Ziehbrunnen, wie wir ihnen noch jetzt in unsren Dorfgassen begegnen. Wir sehen eine Rundung von fünf bis sechs Fuß Durchmesser, die Rundung selbst mit Feldsteinen ausgemauert und die mit Geröll locker zugeworfene Höhlung noch immer über fünf Fuß tief. Auf unsere Fragen erfahren wir, daß vor einem Menschenalter alle diese Dinge noch viel erkennbarer waren: das Mauerwerk der Kirche ragte noch mannshoch auf, die Brunnenhöhlung war noch gegen funfzehn Fuß tief, und der Mantel des Brunnens erwies sich noch deutlich als eine Art Lehmzylinder, in dem die Steine kreisförmig übereinandersteckten.
Wir schreiten von der »Brunnenstelle« zu der benachbarten »Backofenstelle«. Sie liegt im Roggenland und gibt sich zunächst durch nichts Besonderes zu erkennen. Halme stehen jetzt dicht umher. Erst bei genauerer Einsicht gewahren wir, daß sich mitten in dem schwarzbraunen Boden eine kreisrunde Lehmstelle von etwa Backofendurchmesser scharf markiert.
Von hier aus geht es weiter zum »Markstein«, der bis diesen Tag von einer alten Eiche überschattet wird. Aber sie gehört doch nur dem Nachwuchs an, der, als die Stadt zerstört war, durch die offenen Tore hier einrückte. Die wirklich alte Eichengeneration, die zu Lebzeiten der Stadt den Marktplatz einfaßte und beschattete, ist hin und zeigt nur noch an einzelnen Wurzelstubben, wes Schlages und Umfanges sie war.
Weit mehr indes als diese Wurzelstubben von kolossalem Durchmesser ist der Markstein selbst eine Sehenswürdigkeit. Es ist derselbe, über den wir schon weiter oben berichtet haben. Er mißt etwa acht Fuß im Quadrat, geht über vierzehn Fuß in die Tiefe und ragt nur wenig aus dem Erdreich hervor. Natürlich hat ihn nicht Menschenhand hierher gelegt, und die Annahme hat nichts Gezwungenes, daß er ein Opferstein der Ureinwohner war. Auf diesem Stein zu schlafen müßte mindestens ebenso unheimlich wie unbequem sein.
Und von diesem an höchster Stelle gelegenen »Markstein« aus haben wir jetzt, nach vorgängiger Kenntnisnahme der Einzelnheiten, alles in der Klarheit einer Reliefkarte vor uns. Wir erkennen deutlich die Mauer, die Tore, die Hauptstraße, die Kirche, die einzelnen Häuser und Gehöfte, und ungerufen wie eine Vision steigt die alte Stadt aus ihrem Grabe wieder vor uns auf. Gewiß ist das Bild, das wir uns von ihr machen, ein vielfach falsches; aber es sind dieselben Fehler nur, wie wenn wir uns, mit Hülfe eines Plans, eine Stadt im Geiste aufbauen. Die Dinge selbst sind nicht richtig, aber wir geben den Dingen ihren richtigen Platz .
Unten am Hügelabhang, in Nähe der »Suhle«, blickten wir noch einmal auf das Steinfeld zurück, das nicht länger ein Chaos für uns war. Dann erst trennten wir uns zögernd von einer Stelle, über der ein ganz besonderer Zauber waltet. Die Natur wuchs hier einst wild in eine Stätte der Kultur hinein und wucherte darin; nun hat eine andere Kultur den Wald gefällt und breitet ihre Saaten darin aus. Städtisches Leben von ehemals und
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