Wandlung
Personalakte, seine Heimatadresse, die nächsten Angehörigen. Die Erfolgsaussichten waren gering. Selbst wenn sein Leichnam irgendwo in Europa an den Strand gespült werden sollte, würde ihn kein Lebender mehr finden. Trotzdem erschien es ihr richtig so; es war der Versuch,
bei seinem Übergang ins Jenseits seine Identität zu bewahren.
Irgendwann im Laufe der Bestattungszeremonie würde sie eine Ansprache halten müssen, ein Resümee von Mals Leben. Sie würde seine Tugenden auflisten müssen, die Dinge, für die er sich begeistert hatte, die Kämpfe, die er ausgefochten und gewonnen hatte, und das, obwohl sie nicht das Geringste über ihn wusste.
Jane ging über das Eis zur Hyperion hinüber, machte dabei einen weiten Umweg, um den infizierten Passagieren aus dem Weg zu gehen, die aus dem Riss im Rumpf des Schiffs hervorströmten.
Mals Zimmer war die Magellansuite, roter Samt und vergoldete Armaturen, Lithografien von Kriegsschiffen aus der Zeit Napoleons. Im Kleiderschrank hing der Gesellschaftsanzug eines höheren Offiziers. Plötzlich überkam Jane eine Woge von Klassenhass. Sie war zeitlebens benachteiligt gewesen und identifizierte sich gefühlsmäßig mit den kleinen Arbeitern an Bord, den osteuropäischen Einwanderern, die für ein Trinkgeld katzbuckelten. Sie fragte sich, ob sich die rangniederen Besatzungsmitglieder auf der Hyperion , das Reinigungspersonal, die Kellner, die Mannschaft im Maschinenraum, der Annehmlichkeiten, wie sie die Offiziere an Bord genossen, überhaupt bewusst gewesen waren. Vermutlich nicht.
Mals Sachen lagen neben dem Bett auf einem Haufen, im Badezimmerwaschbecken weichten noch Socken ein. Gern hätte sie an den Wert des Individuums geglaubt, dass jeder ein reiches Innenleben besaß, ein kleines Universum für sich war. Doch auf diesen Mann traf das nicht zu, er war ein Nichts.
Sie hatte sich umgehört. Wie war dieser Mal wirklich? Was ging in seinem Kopf vor? Niemand wusste es. Er war Nails Schatten. Wenn Nail Gewichte in die Höhe riss, stemmte Mal Hanteln gleich neben ihm. Setzte sich Nail vor den Fernseher, zog Mal einen Stuhl heran.
Auf ihre Frage nach seiner Meinung über Mal hatte Nail nur die Achseln gezuckt. »Er hat nicht eben viel geredet. Ich glaube, er war ein Fan von West Ham.«
Sie setzte sich auf den Badewannenrand. Sie würde mit den anderen Besatzungsmitgliedern sprechen müssen, vielleicht hatte Mal einem Freund gegenüber irgendwann spätnachts sein Herz ausgeschüttet und ihm seine Träume, seine größten Enttäuschungen anvertraut.
Auf dem Fußboden neben der Klobürste lag etwas, ein verdrehtes Stückchen Alufolie, an dem ein braunes Pulver klebte. Jane hielt die knittrige Folie in der Hand und betrachtete sie von allen Seiten.
Jane und Ghost bezogen eine Suite in der Nähe der Brücke. Meist schauten sie sich abends in seidene Morgenmäntel gehüllt irgendwelche Filme an. Sie wechselten sich mit Kochen ab.
Jane wurde jedes Mal verlegen, wenn Ghost sie nackt sah, ihre lebenslange Korpulenz hatte ihr eine schlaffe Haut beschert. Ghost schien es nichts auszumachen, er hatte selbst einen Bauch und einen behaarten Rücken.
»Die Supermodels sind alle tot, Mädel«, erklärte er ihr. »Also hör auf damit.«
»Was hältst du hiervon?«, fragte Jane.
Ghost unterbrach Der Stadtneurotiker und nahm ihr das Stück Folie aus der Hand. »Silberpapier. Was soll damit sein?«
»In meiner alten Kirche der Heiligen Apostel lagen jeden
Morgen kleine Stückchen Alufolie in der Eingangshalle. Junkies hatten sie dort liegen lassen.«
»Und, wo hast du das hier gefunden?«
»Bei Mal, in seiner ehemaligen Suite.«
»Da ist irgendein Drogendeal in die Hose gegangen, willst du das damit sagen? Du glaubst, Mal sei in einen handfesten Streit verwickelt worden? Man wickelt ein Geschäft ab, streitet sich übers Geld, oder was immer dieser Tage als Geld zählt. Vielleicht hat jemand ein Messer gezogen.«
»Du hast doch früher Gras verkauft, oder? Aus deiner kleinen Hydrokultur.«
»Ich hab’s verteilt, gegen Zeitschriften und solches Zeug eingetauscht. Richtiggehend gedealt hab ich nie.«
»Hat man dir jemals im Tausch harte Drogen angeboten?«
»Nein, es würde mich allerdings nicht überraschen, wenn jemand hier an Bord das Zeug verkauft. Das kommt auf den Offshoreanlagen öfter vor, ein Haufen Jungs, nirgends, wo man hingehen könnte, nichts zu tun. Wer eine Tüte Pillen oder einen Klumpen Heroin an Bord mitbringt, dürfte einen aufnahmebereiten
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