Wandlung
dick war, um eine Schlinge daraus zu knoten. Sie wünschte, sie hätte eine Waffe; dann könnte sie sich an ein Fenster setzen, sich den Lauf an die Schläfe halten und sich mit dem Blick auf die Aussicht ablenken, könnte versuchen, die Sternbilder zu benennen, und dabei ganz beiläufig die Welt ausschalten, wie eine Fernsehshow, die sie nicht länger interessierte.
Ihr Leben war vertan. Sie war eine schlechte Ärztin, eine schlechte Mutter. Es wäre ein Leichtes, das alles auf die Drogen zu schieben, dabei hatte sich ihr Leben schon lange, bevor sie das erste Mal Codein ausprobiert hatte, in einer Abwärtsspirale befunden: Dieses lähmende Unwohlsein, das sie seit ihren Kindertagen verfolgte, jeder Tag von der festen Überzeugung vergiftet, dass nichts der Mühe wert war. Wohin sie auch ging, was immer sie tat, nie konnte sie sich wirklich dazu durchringen, für irgendetwas Interesse aufzubringen. Aber vielleicht gab es doch noch etwas, das sie tun konnte. Ein letzter Moment zur Rechtfertigung ihrer Existenz.
Von allen aus der Besatzung der Rampart konnte ausgerechnet sie sich unbehelligt auf dem gesamten Schiff bewegen. Sobald die Mutanten Jane oder Ghost erblickten, würden sie über sie herfallen und sie in Stücke reißen, ging jedoch Rye an ihnen vorüber, schienen sie sich ihrer Anwesenheit gar nicht bewusst. Rye konnte ihnen mit der Hand vor dem Gesicht herumfuchteln, mit den Fingern schnippen, sie herumschubsen, sie reagierten nicht darauf.
Vielleicht ließe sich ihre Freiheit dazu nutzen, das Schiff zu durchstreifen und eine Bombe zu konstruieren. Ein geheimes Lager mit Propangasflaschen hatte sie
bereits entdeckt, und irgendwo an Bord mussten sich noch Dieselreserven befinden. Sie konnte der Besatzung der Rampart Zeit lassen, das Schiff zu räumen, dann die Tanks öffnen, die Ventile aufschrauben, die Technikräume mit Treibstoff fluten und ein Streichholz anzünden. Ein paar Passagiere der Hyperion waren draußen auf dem Eis, die meisten jedoch befanden sich an Bord des Kreuzfahrtschiffs. Sie konnte sie alle einäschern, das Schiff ausbrennen lassen und die Insel von ihnen säubern. Und gleichzeitig ihrem Leben ein schnelles Ende bereiten; eine Explosion dieses Ausmaßes bedeutete augenblickliche Vernichtung. Die Besatzung der Rampart würde das alles von der Plattform aus beobachten, sie würden die Explosion sehen und die Geste begrüßen. Schließlich sah es ganz so aus, als würde die Hyperion für alle Zeiten festsitzen. Eine derartige Sprengung würde sie als Heldin sterben lassen.
Wirre Gedanken. Eine zarte innere Stimme warnte sie, dass ihre Überlegungen alles andere als logisch waren. Sie war im Begriff, sich immer mehr in Wunschvorstellungen zu ergehen. Sie würde den Tod aller verschulden.
Rye machte sich auf die Suche nach den Dieseltanks, dabei fand sie einen mehrsprachigen Prospekt: Die Hyperion – Königin der Meere, mitsamt einem ausklappbaren Übersichtsplan, und begab sich zu den ausschließlich der Besatzung vorbehaltenen internen Bereichen des Schiffs.
Dort sah sie einen Mann sich an einer Flurwand entlangschleppen. Sein Oberkörper war nackt, sein Rücken ein Chaos aus metallischen Borsten. Aus seiner Hosentasche lugten die Ohrstöpsel eines Stethoskops hervor.
»Doktor? Können Sie mich hören?«
Keine Reaktion.
»Mein Name ist Rye, ich bin ebenfalls Ärztin. Wie heißen Sie? Können Sie mich hören? Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«
Langsam wandte sich der Mann um und sah sie an.
»Wie heißen Sie? Sagen Sie mir Ihren Namen.«
»Walczak. Mein Name ist Walczak.«
Sie setzten sich in das Parkett des Schiffskinos, vor sich eine zerrissene Leinwand, umrahmt von einem Bühnenportal.
»Eine Zeit lang war ich der Überzeugung, wir hätten sie unter Kontrolle«, sagte er. »Wir hatten die infizierten Passagiere und Besatzungsmitglieder in der Klinik eingeschlossen und sie unter Quarantäne gestellt. Bloß weigerten sich die Leute, ihre Verwandten auszuliefern, sie wollten nicht mit ansehen, wie sie mit den ständig schreienden Menschen zusammen weggeschlossen wurden, die wir an ihre Betten gefesselt hatten. Also versteckten die Leute ihre Söhne und Töchter, Ehefrauen und Ehemänner in ihren Kabinen, gaben ihnen Aspirin, brachten ihnen Mahlzeiten, stets in der Hoffnung, sie würden sich wieder erholen. Auf diese Weise hat sich das Virus ausgebreitet. Wir stellten einen Suchtrupp aus einigen Offizieren und ein paar Besatzungsmitgliedern zusammen, wir
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