Wandlung
tiefblaue Färbung auf.
Am Horizont erblickte Nikki einen weißen Flecken, das abgebrochene Teilstück eines Eisbergs? Ein Segel? Das Objekt kam näher, es war eine Steuerfinne, die Heckpartie eines Flugzeugs, eine tief im Wasser liegende 747 der Air France.
Nikki ging neben dem riesigen Passagierflugzeug längsseits, sprang auf den Flügel hinüber und rammte den mit Widerhaken versehenen Anker in eine vernietete Metallnaht. Ging dann auf dem Flügel auf und ab, ihre Stiefel knirschten auf dem salzüberkrusteten Metall, es waren seit Wochen ihre ersten Schritte. Jeden Tag hatte sie damit verbracht, im Cockpit zu kauern und einmal am Tag über den Bootsrumpf zu kriechen, um nach Mast und Segel zu sehen.
Mit ihrem Ärmel wischte Nikki ein Bullauge frei. Durch das beschlagene Glas sah sie Reihen leerer Sitze und vermutete, dass man der Maschine das Eindringen in den amerikanischen Luftraum verweigert hatte und ihr bei der Rückkehr nach Europa auf halber Strecke der Treibstoff ausgegangen war. Die Maschine war auf dem Wasser notgelandet, und die Passagiere hatten die Notrutschen als Rettungsflöße benutzt. Das letzte Mitglied der Kabinenbesatzung, das die Maschine verlassen hatte, musste aus einer Art häuslichem Instinkt die Luke hinter ihnen verschlossen haben. Das Flugzeug war hermetisch abgeriegelt, eine stählerne Luftblase, die in ihrem Frachtraum, den leeren Treibstofftanks und den Passagierabteilen genug Luft zurückbehalten hatte, um sich über Wasser zu halten. Sie würde noch Monate, vielleicht Jahre, schwimmen und den Sturmböen trotzen.
Nikki warf sich mit der Schulter gegen die Einstiegsluke
über dem Flügel. Mit einem schmatzenden Geräusch gab die Gummiversiegelung nach. Mattes, schräg einfallendes Tageslicht erhellte das Innere der Maschine.
Touristenklasse, Reihen leerer Sitze, von der Decke hing ein Gewirr von Sauerstoffmasken herab. In den Gängen lagen verstreut Gepäckstücke herum. Nirgendwo Blut oder Leichen.
Sowohl Businessclass als auch erste Klasse waren menschenleer; Diplomatenkoffer und Laptops waren ordentlich auf den Sitzen liegen gelassen worden, als würden die Passagiere in Kürze zurückkehren und ihre Reise fortsetzen.
Das Cockpit war verlassen, man blickte auf Reihen ausgeschalteter Instrumente und hatte eine Aussicht auf den leeren Ozean.
Nikki durchsuchte die Bordküche im rückwärtigen Teil des Flugzeugs in der Hoffnung, ein paar Erfrischungsgetränke zu finden, Kartons mit haltbarer Milch und vielleicht Kekse.
In einem umgekippten Servierwagen fand sie Kartons mit gefrorenem Orangensaft. Sie riss die Verpackung ab und hielt einen gelben Saftklotz in der Hand, den sie im Spülbecken der Bordküche zertrümmerte. Während sie die Splitter lutschte, durchsuchte sie die Maschine.
Dabei fiel ihr auf, dass eine der Toiletten besetzt war. Sie trat gegen die Tür und machte einen Satz zurück, als eine Stimme ertönte.
»Untersteh dich reinzukommen.«
»Gütiger Himmel«, sagte sie. »Seit wann sind Sie denn schon an Bord?«
»Verschwinde. Verschwinde einfach.« Eine männliche Stimme.
»Schauen Sie, es besteht keine Veranlassung, sich zu
verstecken. Hier bin nur ich. Ich bin allein. So kommen Sie schon raus.«
»Die Tür hat sich verzogen. Und das wird sie auch bleiben. Komm ja nicht rein.«
»Bitte kommen Sie heraus.«
»Nein.«
»Also hören Sie, das ist idiotisch.«
»Fick dich ins Knie.«
»Die Maschine ist notgelandet. Das wissen Sie doch, oder? Außer Ihnen ist niemand mehr an Bord.«
»Ich gehe hier nicht weg.«
»Sie befinden sich mitten auf dem gottverdammten Ozean. Die anderen sind alle auf die Rettungsflöße umgestiegen. Sie sind allein, und die Maschine kann sich kaum noch über Wasser halten. Noch eine Tasse mehr, und sie wird auf den Grund sinken und Sie mitnehmen.«
»Hau einfach ab.«
»Also schön. Ich werde mich verdammt noch mal hüten, mit Ihnen zu streiten.«
In einem Schrank der Bordküche entdeckte sie eine Palette mit abgefülltem Wasser. Sie stapelte die Flaschen neben der Luke. Zwischen den verstreuten Gepäckstücken fand sie einen Kulturbeutel sowie Feuchttücher für Babys, schloss sich im Waschraum der Businessclass ein, zog ihren Neoprenanzug aus und wischte sich von Kopf bis Fuß ab. Dann putzte sie sich die Zähne und spuckte aus. Ihr Feststellmesser ließ sie aufgeklappt auf dem Rand des Beckens liegen, für den Fall, dass ihr unsichtbarer Begleiter beschloss, aus seinem Kabuff hervorzukommen.
In einem Koffer fand sie
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