Wandlung

Knochen flammen würde.
    Sie verriegelte die Luke wieder, folgte einem Luftzug von arktischer Kälte und schlenderte durch das Schiff, bis sie zu dem Riss im Rumpf der Hyperion gelangte. Ein Notausgangsschild wies auf die Stelle, wo schartiges, mit Eispartikeln bedecktes Metall den Nachthimmel einrahmte.
    Rye trat über verbogene Deckplatten hinweg, blieb
in der riesigen Wunde stehen und starrte nach draußen auf die Sterne und die felsige Mondlandschaft der Insel.
    Gerüchte hatten die Runde gemacht. Einige Monate zuvor waren Jane und Punch mit mehreren Kisten von der Insel auf die Plattform zurückgekehrt. Sie hatten den Standort einer Erdbebenforschungsstation aufgesucht und von dort irgendeine Art Munition mitgebracht. Jetzt war das Geheimnis gelüftet, die Kisten hatten Thermitgranaten enthalten.
    Anders als konventionelle Antipersonen-Minen waren diese Granaten nicht dafür konstruiert, bei der Explosion Schrapnell freizusetzen. Einmal ausgelöst, brannten sie eine volle Minute lang bei einer Temperatur von viertausend Grad. Die Hitze vermochte einen Motorblock innerhalb von Sekunden in eine Pfütze flüssigen Metalls zu verwandeln; arktische Bohrtrupps benutzten sie, um rasch ein Loch in den Permafrost zu schmelzen.
    Würde es schmerzhaft sein, wenn sie sich hinlegte, den Stift herauszog und die Granate wie ein Kissen rasch unter ihren Kopf schob? Drei, vielleicht vier Sekunden unvorstellbarer Qualen, während ihr Fleisch aufplatzte und sich vom Schädelknochen schälte, dann würde ihr Gehirn mit einem Zischen verdampfen, sich ihre Gedanken und Erinnerungen in Dunst auflösen.
    Mach es, redete sie sich ein, der Besatzung der Rampart zuliebe. Mach es für sie.
     
    Ein steter Treibstoffschwall ergoss sich aus den Dieseltanks. Rye stieg eine Leiter hinab und watete knietief hindurch, in der Hand eine Granate. Keine Ausflüchte mehr, sie brauchte nichts weiter zu tun, als sich, in Dieseldämpfe gehüllt, zwischen diese riesigen Treibstofftanks
zu stellen und den Stift herauszuziehen. Die Explosion dürfte sich nach Megatonnen bemessen.
    Sie hakte den Finger in den Ring. Was würde aus der Besatzung der Rampart werden? Sie schüttelte den Kopf, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Leute befanden sich nur wenige Ebenen über ihr; wenn sie die Granate tatsächlich zur Explosion brachte, würden sie verbrennen.
    Sie betrachtete den roten Zylinder in ihrer Hand. Plötzlich fühlte sie sich müde und wollte nur noch schlafen.
     
    Rye wachte auf und hob den Kopf von einem Tisch mit grüner Filzbespannung. 17 gewinnt gegen die Bank . Sie sah sich um, sie befand sich im Kasino, am Blackjack-Tisch. Soeben war ein Spiel im Gange.
    »Willkommen zurück«, sagte der Kartengeber, ein Lächeln auf den aufgeplatzten, blutigen Lippen. Sein Gesicht löste sich allmählich auf, die Haut hing in Streifen herab. »Ich dachte schon, wir hätten Sie verloren, ich dachte, Ihre Lichter wären für immer erloschen. Nun, vielleicht morgen, wenn Sie Glück haben. Sehr viel länger wird es bestimmt nicht mehr dauern.«
    Er verteilte zwei Spielkarten. Rye machte sich nicht einmal die Mühe, ihr Blatt anzusehen, und schob einfach ein paar Chips Richtung Tischmitte.
    »Möchten Sie sich Ihre Karten nicht ansehen?«, fragte er. »Sie ziehen es vor, sich ganz dem Zufall hinzugeben?«
    Er zog eine Sieben. Überkauft.
    Rye wies auf die leeren Plätze neben ihr. »Demnach haben sich die anderen alle abgewandt?«
    »Einer nach dem anderen. Sosehr ich mich für sie freue, ich komme nicht umhin zu fragen, warum nicht ich? Warum bin ich übrig geblieben?«

    »Diese Filmrisse.«
    »Diese gottverfluchten Filmrisse. Jetzt sind nur noch Sie und ich übrig, die lebenden Toten.«
    »Mir ist, als hätte ich mein Leben lang immer nur den Kürzeren gezogen. Verzeihen Sie mein Selbstmitleid, ich will einfach nur, dass es vorbei ist.«
    »Das wird schon noch passieren, meine Beste. Da können Sie ganz unbesorgt sein.«
    »Ich habe eine Heidenangst. Ich möchte irgendetwas tun, Maßnahmen ergreifen, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber ich muss gestehen, ich habe Angst.«
    Der Geber wies auf seine Beine. Rye reckte den Hals, um unter den Tisch sehen zu können. Aus den Schuhen des Gebers waren metallene Ranken herausgewachsen, sie hatten den Teppichboden durchbohrt und waren mit den darunterliegenden Deckplatten verschmolzen. Es sah aus, als ob er Wurzeln geschlagen hätte.
    »Bedauerlicherweise bin ich nicht mehr so beweglich, wie ich es einmal war.