Wandlung
schleppten sie in ein Zimmer im Hauptwohntrakt.
»Gerade musste ich daran denken«, sagte Jane, »dass wir drei Zeitzonen von der nächsten Tafel Schokolade entfernt sind.«
»Unterdrück diesen Gedanken, er macht dich nur verrückt. Gerade letzte Woche habe ich mich plötzlich nach einem Bier gesehnt. Es kam vor ein paar Tagen einfach über mich. Gut möglich, dass ich nie wieder eins trinken werde. Allein bei dem Gedanken wird mir hundeelend.«
»Manche Menschen berauschen sich am Verlust. Die meiste Zeit ist das Leben langweilig, dann plötzlich bricht dein Onkel tot zusammen, und, na klar, du bist
traurig, aber auf der anderen Seite genießt du es, weil es seit Monaten das erste echte, klare Gefühl ist, das du verspürst. Es reißt dich aus deiner Erstarrung. Plötzlich fühlst du dich wach und frei. Ich bin genauso. Ich habe Angst, ich bin erschöpft und will nach Hause. Aber ein kleiner, kindischer Teil von mir genießt die Dramatik.«
»Ja. Na gut, die Menschen sind nun mal kompliziert. Das ist nichts, weswegen man sich schämen müsste.«
Ghost hatte eine nicht mehr genutzte Werkzeugausgabe mit Beschlag belegt, ein Hochspannungsschild an die Tür gepappt, um Besucher abzuschrecken, und den Raum in eine Cannabis-Farm verwandelt.
Zur Unterstützung des Kampfs gegen die Winterdepressionen hatte man die Ölplattform mit UV-Lampen und Sonnenbänken ausgestattet. Ghost hatte ein paar Lampen über einer Reihe von Tüten mit Komposterde aufgehängt und in dem Raum mithilfe von Konvektoren ein subtropisches Klima geschaffen. Die Pflanzen waren kräftig in die Höhe geschossen. Das Ganze sah aus wie ein Raum voller Waldfarne.
»Weiß Rawlins von diesem Raum?«
»Frank ist ein pragmatisch denkender Mensch. Solange die Plattform problemlos läuft, ist er glücklich und zufrieden.«
»Und was genau machst du hier auf der Bohrinsel?«, fragte Jane.
»Ich bin hier der Anlagetechniker. Was ein besseres Wort für Hausmeister ist.«
Ghost zog einen Tabaksbeutel aus seiner Hosentasche und drehte einen Joint.
»Rauchst du?«
»Ab und zu«, log Jane. Sie mochte nicht zugeben, wie abgeschottet sie lebte.
Er zündete den Joint an und reichte ihn Jane.
»Mischung ›verrückter Hund‹.«
Sie inhalierte. Das Schwindelgefühl stieg ihr sofort in den Kopf.
Ghost kämpfte sich in ein paar Chirurgenhandschuhe, riss Blätter ab und stopfte sie in den Beutel.
»Ich werd euch vermissen, Mädels«, sagte er zu den Pflanzen.
»Du hast ihnen Namen gegeben?«, krächzte Jane.
»Das hier ist Beatrice.«
»Mit Menschen hast du’s nicht so, hab ich recht?«
»Menschen gehen mir auf den Geist.«
Jane räumte die Kapelle aus, verpackte das Kreuz, die Kerzen und die Abendmahloblaten. Ghost ging ihr dabei zur Hand.
»Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«
»Was?«
»Dass der einzige religiöse Ort auf der Bohrinsel christlich ist.«
»Ist mir völlig schnurz. Ich habe zehn Jahre auf einer Gasförderanlage in Qatar gearbeitet. Wo man hinsah, Religionspolizei. Ich musste eine Erlaubnis beantragen, um Bier trinken zu dürfen.«
Rawlins hatte ihr geraten, eines der Zimmer im Hauptwohntrakt als Kapelle zu benutzen.
»Schmeißen Sie das Bett und den Fernseher raus«, hatte er gesagt. »Richten Sie einen behelfsmäßigen Altar ein. Die Männer brauchen einen besonderen Ort, wo sie nachdenken können. Eine Art Meditationsraum.«
»In Ordnung.«
»Zeigen Sie, dass Sie für sie da sind. Die Jungs werden jemanden zum Reden brauchen.«
»Vielleicht sollte ich jeden Morgen in der Kantine ein Gebet sprechen.«
»Gute Idee. Ich denke, das würden alle zu schätzen wissen.«
Zum ersten Mal seit Langem war sich Jane nützlich vorgekommen. Teils war sie froh, dass der japanische Tanker nicht gestoppt hatte. Wären sie gerettet und auf das Festland gebracht worden, würde sich ihre neue Familie in alle Winde zerstreuen und sie wäre wieder allein.
In den Fluren des Hauptwohntrakts drängten sich die Männer mit ihrem Gepäck wie eine Busladung Touristen beim Einchecken in einem Hotel. Rawlins machte den Vorschlag, aus einem Becher Nummern zu ziehen.
Nail und seine Truppe verkündeten, sie würden die oberste Etage beziehen. Sie spielten laute Musik, legten in einer Ecke der Kantine Matten aus und platzierten ihre Hanteln darauf. Niemand brachte irgendwelche Einwände vor. Niemand wollte in ihrer Nähe sein.
Jane richtete ihre Kapelle ein. Sie schleppte Möbel auf den Flur hinaus, schob einen Tisch unter das Fenster und
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