Wandlung
gesehen habe, gab es keinen einzigen Fall von Besserung oder Abklingen. Diese Krankheit bedeutet den sicheren Tod. Gleichwohl hoffte ich darauf, verschont zu werden, vielleicht hatte ich ja eine Chance. Vielleicht habe ich den Finger rechtzeitig amputiert, um die Ausbreitung der Krankheit noch zu verhindern. Vielleicht würde ich die erste Glückliche sein, der es gelungen ist, sich von der Infektion zu kurieren.
In den ersten neun Stunden nichts, dann das erste metallische Schimmern im wunden Fleisch. Ich untersuchte die schuppige Haut mit einer Pinzette; eine Metallborste wuchs aus dem Knochen hervor. Ich habe meinen Fingerstumpf sofort in den blutigen Bolzenschneider geklemmt und ihn bis zum Knöchel abgetrennt. Ich verband die Wunde und verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, hatten die nekrotischen Veränderungen bereits auf meine gesamte Hand übergegriffen.
Metallische Borsten sprießen wie feine Splitter aus meiner Handfläche. Meine Hand fühlt sich schwer und taub an, ansonsten habe ich aber keine Beschwerden. Ich
nehme Codein und Percodan und bin so stoned, dass ich, ohne das Geringste zu spüren, durch Feuer gehen könnte. Ich habe einen Handschuh über meine Hand gezogen, um der Entdeckung zu entgehen. Ich bin selbstverständlich ansteckend; würde meine Krankheit entdeckt, würde man mich unter Quarantäne stellen. Ich ziehe es jedoch vor, die Umstände meines Todes selbst zu bestimmen.
Das Meer rings um die Rampart friert nach und nach zu, in Kürze wird die Plattform über eine Eisbrücke mit der Insel verbunden sein, und die Horden infizierter Passagiere, die sich an der Küste zusammenrotten, werden bis zur Plattform vordringen können. Sollten sie an Bord der Plattform gelangen, werden sie in ihrer Gier nach Blut durch die Flure streifen. Mich werden sie vermutlich unbehelligt lassen, sie werden Witterung aufnehmen und zu dem Schluss kommen, dass ich eine der ihren bin. Ich werde mich unbehelligt bewegen können, während sie die Besatzung der Rampart in Stücke reißen.
Heute Nachmittag habe ich Rajesh Ghost und Reverend Blanc dabei geholfen, mithilfe von Brennschneidern die Leitern und Treppen an allen Auflagern der Plattform zu entfernen. Jetzt kann man nur noch mit dem Aufzug hinunter auf das Eis gelangen. Die Passagiere der Hyperion mögen sich in ihrer Gier nach Frischfleisch unter der Plattform zusammenrotten können, doch die Besatzung wird für sie unerreichbar sein.
Ich bemühe mich, angesichts des Todes eine stoische Abgeklärtheit an den Tag zu legen, aber wenn wir ehrlich sind, ist mein Zustand buddhistischer Gelassenheit eher auf die starken Morphiumdosen zurückzuführen als auf hart erkämpfte Weisheit. Ich setze mir alle paar Stunden eine Spritze. Unter meiner Koje habe ich einen Schuhkarton
mit Injektionsnadeln versteckt; viele Spritzen sind nicht mehr übrig, gerade genug, um die nächsten Tage zu überstehen. Sollte die Besatzung der Rampart in den kommenden Monaten gezwungen sein, Medikamente per Injektion zu verabreichen, werden sie eine gebrauchte Einwegspritze ausspülen und sterilisieren müssen. Aber das ist deren Problem.
Die Empfindung kuscheliger Wärme, die Woge, wie ich es immer nannte, erzeugt ein Gefühl der Heimkehr. Ich habe Jahre gebraucht, um davon loszukommen, habe es mir immer wieder vorgenommen und bin rückfällig geworden. Habe ein volles Jahr der Entgiftung durchgestanden, um meine Approbation zurückzubekommen. Ich habe mein Haus verloren, mein Kind, meinen Job, musste sechzig Stunden die Woche in einem Supermarkt schuften und Lebensmittel mitgehen lassen, nur um die Miete für ein Einzimmerapartment bezahlen zu können. Es war ein Segen, dass man mir die Zulassung nicht endgültig entzogen hat. Aber vermutlich spielt das jetzt alles keine Rolle mehr. Eigentlich könnte ich einfach den Rausch genießen.
Während meiner Zeit am Kings College habe ich immer die Lungenkrebspatienten beobachtet, die in Nachthemd und Pyjama ihre Tropfenständer aus dem Hinterausgang des Krankenhauses schoben; sie trafen sich auf einer Verladerampe und rauchten voller Genuss eine Zigarette. Warum sollten sie auch aufhören. Der schlimmste Fall war bereits eingetreten, der Schaden angerichtet.
Gestern Abend verspürte ich den Drang, nach draußen zu gehen, mich an das Geländer zu stellen und zur Insel hinüberzuschauen. Vierzig Grad unter null, und doch habe ich die Kälte kaum gespürt. Eine ganze Weile stand ich da und lauschte auf die Stimmen in meinem
Weitere Kostenlose Bücher