Wanja und die wilden Hunde
uns und auch Felix selbst mitunter zum Wahnsinn trieb.
Nie werde ich vergessen, wie Felix sich beherrschen musste, um ein einziges Mal neben Wanja auf dessen Schlafplatz im Hof zu gelangen. Wanja ließ einen Hund nur dann neben sich liegen, wenn er dazu Lust hatte und der betreffende Hund sich ihm respektvoll und ruhig näherte. Laska, Milyi und Baba lagen oft eng an ihn gekuschelt, nur Felix wollte es nicht gelingen, diesen begehrten Platz zu erobern.
Er versuchte es immer wieder. Oft stakste er auf steifen Beinen in einem ehrerbietigen kleinen Bogen auf Wanja zu. Unterwürfig duckte er den Kopf und leckte Wanja aus 30 Zentimeter Distanz die imaginären Lefzen. Nur durch diese Bewegung jedoch schien der ganze Hund sofort wieder »in Betrieb« zu geraten, und sein kurzer Schwanz begann förmlich zu rattern. Wanja sah ihn dann sehr direkt an, was offenbar heißen sollte: »Danke, du kannst abdampfen.« Felix jedenfalls trollte sich daraufhin eilig.
Einmal jedoch gelang es Felix, mehrere Minuten stocksteif vor Wanja stehen zu bleiben. Dieser hatte den Kopf abgelegt und beobachtete Felix nur aus den Augenwinkeln. Der kleine Terrier hob vorsichtig ein Pfötchen, welches – ebenso reglos wie der Rest des Körpers – noch eine Weile in der Luft hing, bevor er dann mit einem einzigen Satz neben Wanja sprang und dort sofort wieder erstarrte.
Ganz langsam ließ er sich neben ihm nieder. Er schien zu wissen, dass er bei einer einzigen zu schnell ausgeführten Bewegung sofort wieder von diesem begehrten Platz vertrieben würde. Mit verklärtem Blick schaute er geradeaus und schlief dann – vielleicht vor Erschöpfung nach der ungewohnten eigenen Beherrschung – neben Wanja ein. Erst im Schlaf geriet ihm dann leider wieder seine Ruhelosigkeit in die Pfoten, sie bewegten sich wie ein ganzer Flohzirkus.
Ich liebte Wanja dafür, dass er den kleinen Kerl nicht von seiner Lagerstatt vertrieb, um selbst zu schlafen (was ich sicher gemacht hätte, wenn der Unruhegeist in meinem Bett gewesen wäre), sondern einfach aufstand und sich einen anderen Platz suchte.
Ich beerdige Felix neben Baba und Laska, und das Leben wird sehr leise ohne ihn.
Bambino trauert um seinen Freund. Sein täglicher Spielkamerad, der Eine-Million-Ideen-Hund Felix, ist nicht mehr da. Bambino liegt apathisch da, läuft lustlos mit, wenn wir laufen, jagt nicht und hat einen Blick, der neu ist an ihm. Seine braunen Augen wirken leer und traurig.
Ich öffne eine Dose Fleisch, die im Keller für Notfälle wartet, hole ihn allein in die Küche und stelle sie vor ihn hin. Er schnuppert nicht einmal daran und geht weg. Ich rede ihm gut zu, versuche, ihn aus der Hand zu füttern. Er frisst nichts. Erst am vierten Tag beginnt er wieder, etwas zu sich zu nehmen.
Nur langsam kehren Bambinos Lebensgeister und seine Fröhlichkeit zurück. Es dauert Wochen, bis der alte Bambino wieder mit uns lebt.
Ich wusste nicht, dass Hunde so intensiv trauern können.
Auch die Art und Weise menschlicher Trauer in Lipowka trifft mich mit ungeahnter Wucht.
Der Mann der Brotbäckerin Walja, Baba Lubas Tochter, fällt während der Feldarbeit um. (Für Lipowkaer Verhältnisse war Pjotr ein noch junger Mann von siebenundsechzig Jahren, und es wird vermutet, dass er einen Hirnschlag erlitt.) Ich erfahre von diesem Vorfall durch laute Schreie, die so heftig und stetig sind, dass mir das Blut gefriert. Sie klingen nicht menschlich. Ich wage mich nur sehr vorsichtig aus dem Haus und versuche zu orten, woher und von wem sie stammen und vor allem, welche Ursache sie haben. Bauer Wasja schwingt auf seiner Wiese gegenüber unter der grauenhaften Beschallung gleichmäßig und entspannt die Sense.
»Wasja, wer schreit denn da so schlimm?«, frage ich.
Er hält inne und zeigt in die Richtung des einen Kilometer entfernten Hofes von Walja. »Ihr Mann ist heute Mittag gestorben. Sie wird jetzt drei Tage schreien.«
»Woher weißt du das?«, frage ich fassungslos.
»Das machen die Frauen hier so«, antwortet Wasja und fährt mit seiner Arbeit fort.
Ich beginne mich langsam an die Schreie zu gewöhnen. Sie sind zu schmerzhaft für meine Ohren, um es nicht zu tun. Am zweiten Tag holt mich Vera zu einem der hier üblichen Kondolenzbesuche ab. Auch sie hält den Kopf gesenkt, als wir uns den Schreien nähern. »In der Stadt trauert man anders«, flüstert sie.
Das Bild, das sich uns bei unserem Eintreffen bietet, brennt sich fotografisch in mein Gedächtnis ein. Vor dem Haus stehen einige
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