Wanja und die wilden Hunde
ganz nah dazu.
Ich sitze mit dem Gesicht zum Feuer, streichle gerade das dicke Nackenfell von Wanja und die zarte Haut von Bambinos Bauch, da setzt sich ein weiterer Hund an meine Seite. In der festen Annahme, es wäre Anton, greife ich ohne Hinzuschauen neben mich und in ein Fell, das ich nicht kenne. Meine Hand zuckt zurück, ich drehe mich zur Seite und sehe das bunt gescheckte Fell der scheuen Alma, die ich noch nie berühren durfte. Sie blickt nun ebenfalls ins Feuer und bleibt bei uns.
Nach drei Jahren gibt Alma ihr Leben im Busch auf.
Ich muss mich jeden Tag neu an dieses Geschenk gewöhnen, so kostbar ist es. Alma zeigt sich als sanfte Hündin mit einem Blick, der voll Weisheit zu sein scheint. Oft habe ich das Gefühl, wenn ich sehen würde, was sie sieht, könnte ich die Dinge besser verstehen.
Geselligkeit
Während ein Fernsehgerät in Deutschland eher zur Isolation des Einzelnen beiträgt, sorgt es in Lipowka für allabendliche Geselligkeit. Da es nur zwei Apparate im Dorf gibt, trifft man sich regelmäßig zum gemeinsamen Fernsehen. Je nach Sympathie haben sich im Laufe der letzten Jahre zwei Gruppen gebildet: Eine Gruppe Babuschkas geht zu Baba Dusja, die andere zu Baba Luba. Männer sind nicht dabei.
In Deutschland und in Veras Wohnung in Moskau werde ich sofort fernsehsüchtig, weil ich das, was mich umgibt, überdecken will mit anderen Bildern. Hier habe ich nicht einen Tag das Bedürfnis fernzusehen. Ich lese, unterhalte mich, sitze am Feuer, gehe unter dem Flutlicht des Vollmondes schwimmen oder liege mit den Hunden zusammen (im Sommer mitunter auch die ganze Nacht) unter freiem Himmel.
Die Babuschkas jedoch sehen offenbar aus einem ganz anderen Grund fern als ich. Da sie nie hinaus in die Welt gekommen sind, kommt die Welt durch das Fernsehgerät zu ihnen. Sie machen sich fein dazu, denn schließlich trifft man sich, und das Ganze hat hier eine ähnliche Bedeutung wie bei uns ein Theaterbesuch.
Jeden Abend kommen die Großmütter, die zu Baba Dusja gehen, an meinem Haus vorbei. Ich sitze währenddessen meist auf der Bank und schaue mir den Sonnenuntergang an. Ihre Stöcke wirbeln den Sand des Weges auf, sodass sie bereits von Weitem als Staubwolke sichtbar werden. An die meisten Stöcke ist ein Tuch geknüpft, in dem ein Gastgeschenk liegt – ein Ei, eine Tomate, kleine Gurken, Kürbiskerne, getrockneter Fisch oder ein Eierkuchen.
Wenn die Großmütter mein Haus erreicht haben, macht es mir besonders Vergnügen zu sagen: »Na, Mädels, wohin geht’s heute Abend?«
Die »Mädels« kichern absolut überzeugend und rufen zurück: »W kinoteatr.« (»Ins Kinotheater.«)
Eines Abends bringe ich Baba Luba Fische, die Vera geangelt hat. Ich klopfe an der Küchentür. Keine Antwort, außer dem sehr lauten Ton des Fernsehers. Ich öffne vorsichtig die Tür.
Ungefähr fünfzehn Babuschkas sitzen vor dem Fernsehapparat und starren wie hypnotisiert auf die sich bewegenden Bilder. Es läuft die allabendliche amerikanische Soap Opera Santa Barbara ( California Clan ), die das weichgespülte Pendant zur Serie Dallas darstellt.
»Hallo«, rufe ich leise.
Keine Reaktion. Alle starren auf den Bildschirm und hören in ohrenbetäubender Lautstärke dem russischen Sprecher zu, der alleine den Text aller Schauspieler ins Russische übersetzt.
»Mein Vater hat Krebs«, sagt er in diesem Moment mit neutraler Stimme, und ein junger Schauspieler, der aus einem Modekatalog entsprungen scheint, fährt sich dazu übertrieben theatralisch durch das gut frisierte Haar.
»Oh, das ist ja furchtbar«, antwortet der Sprecher sich selbst, und eine attraktive Frau verzieht dazu das Gesicht zu einem Ausdruck, der sicher Betroffenheit darstellen soll.
An einem Springbrunnen tauchen weitere gut angezogene Schauspieler auf, und es erfordert einiges an Konzentration, nun mitzubekommen, wen der russische Sprecher gerade synchronisiert. Seine emotionslose Stimme und die Mischung aus Menschen mit edlen Körpern und schönen Gesichtern, gepaart mit allen Problemen, die ein Mensch von der Krebserkrankung bis hin zu einer Verwechslung bei der Geburt haben kann, wirkt offenbar nur auf mich sehr skurril.
Nachdem eine Krankenhausszene mit dem krebskranken Vater zu sehen war, blickt Baba Luba um sich und sagt: »Die Armen, haben die denn keine Dörfer, wo sie gesund werden können?«
Während der Kartoffelernte helfe ich zusammen mit Vera auf mehreren Feldern mit. Die Babuschkas plaudern aus ihrem Leben und erzählen von ihren
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