Wanja und die wilden Hunde
Dorfbewohner und plaudern. Mascha, eine Schwester Waljas, holt gerade Wasser am Brunnen. Dusja, die zweite Schwester Waljas, füllt Piroggen auf einen Teller auf der Tafel vor dem Haus. Aus dem Haus ist Gesang zu hören.
Walja selbst kniet auf dem Feld neben dem Haus und erntet Kartoffeln. Sie wirft ein paar Kartoffeln in den Korb und vollführt dann ein paar schunkelnde Bewegungen, die von unfassbar lauten Schreien begleitet werden. Als sie uns sieht, nickt sie und zeigt auf das Haus, ohne mit dem Schreien innezuhalten.
Diese Form der Schmerzäußerung erstaunt mich zutiefst.
Im Haus stehen Dorfbewohner um den Wohnzimmertisch herum und beten. Pjotr liegt aufgebahrt zwischen brennenden Kerzen. Alle nicken uns freundlich zu, als wir eintreten, dann beten, singen und klagen die Anwesenden weiter.
Ich habe noch nie einen toten Menschen gesehen. Pjotr ähnelt einer Wachsfigur. Er sieht sehr würdig aus. Es ist das erste Mal, dass ich ihn nüchtern sehe. Dennoch wird mir nach zehn Minuten übel von dem süßlichen Leichengeruch, dem Anblick des toten Bauern und der Intensität der Trauer. Es gibt nun zwei Möglichkeiten: Entweder ich gehe sofort wieder hinaus oder ich setze mich. Beides scheint unmöglich – Ersteres aus Pietät, Letzteres, weil alle anderen stehen. Ich entscheide mich für eine Stütze und lehne mich mit dem Rücken gegen den Ofen.
»Mädchen, du bist ja ganz bleich!«, ruft Baba Mascha plötzlich.
»Was hat sie denn?«
»Sie muss an die frische Luft.«
»Die Arme.«
Sätze, die ich im allgemeinen Stimmengewirr höre.
Ich werde hinausgebracht und auf eine Bank gesetzt. Ich bin völlig überrascht, dass hier inmitten der Trauer das Leben stattfinden darf.
Noch ein weiterer Vorfall dieser Art ereignet sich an diesem Tag. Bei mir ist gerade eine deutsche Freundin zu Besuch, die sehr gut Russisch spricht. Wir essen Abendbrot. Es klopft.
Ein Kind steht vor der Tür – ein ungewohnter Anblick in Lipowka – und sagt: »Guten Tag, ich bin der Enkel von Babuschka Walja. Sie schickt mich, weil ich heute auf dem Weg zum Fluss eine Uhr gefunden habe. Sie sagt, die gehöre sicher der deutschen Frau.« (Damit ist mein Besuch gemeint.)
Tatsächlich hat meine Freundin ihre Uhr verloren. Sie strahlt, als sie die Uhr sieht, und bricht dann in Weinen aus: »Dass ausgerechnet deine Oma sich heute über jemanden Gedanken macht, der eine Uhr verloren hat …«
Sie kann sich darüber gar nicht beruhigen, und am vierten Tag gehen wir zu Walja, um uns zu bedanken. Die Schreie haben am dritten Abend aufgehört. Walja kommt uns entgegen und sagt in ihrer direkten Art: »Na, habt ihr so viel Zeug in Deutschland, dass ihr’s verlieren könnt?«, und lacht dabei.
Als Alma eines Morgens tot in ihrem Busch liegt, versuche auch ich zu weinen. Mein Weinen aber ist lautlos, und die Tränen strömen aus mir heraus wie eine nicht versiegen wollende Quelle, ohne dass mir leichter wird. Ich bekomme Tränensäcke unter den Augen, und meine Nase ist dauergerötet. Es ist nicht nur die Trauer um Alma, die mich weinen lässt. Mich erfüllt eine schreckliche Angst vor all den Abschieden, die ich noch vor mir habe.
Ein paar Nächte nach Almas Tod habe ich einen Traum. Ich sitze am Feuer und Alma setzt sich mir genau gegenüber. Sie schaut mich an und sagt mit warmer menschlicher Stimme: »Ich schenke dir noch einmal drei Tage mit mir.« Im Traum verleben wir Zeit miteinander. Ich weiß, dass diese nur geborgt ist, dennoch bin ich ganz unbeschwert und unendlich dankbar, diese Zugabe geschenkt zu bekommen.
Am Morgen wache ich auf, sehe die noch lebenden Hunde und weiß, dass es gilt, mich an jeder Stunde mit ihnen zu erfreuen und sie und mich nicht mit einer Trauer zu beschweren, die erst noch kommen wird. Meine Mutter sagt immer: »Gehe erst durch die Tür, wenn du vor ihr stehst.«
Alma, die scheue Hündin, die sich am Ende ihres Lebens doch noch zu uns gesellte und Vertrauen fasste, öffnet mir im Traum eine Tür. Zum Leben.
Winter
Milyi und die Liebe
Zum Jahreswechsel kommen die Kinder und Enkelkinder der Babuschkas über die vereisten Flüsse gefahren. Dann verbringen oft bis zu vierzehn Personen viele Tage zusammen in dem einzigen Zimmer der Häuser.
Eine Familie aus einem benachbarten, jedoch sonst durch die Flüsse nur schwer zu erreichenden Dorf hat eine Pudel-Mischlingshündin mitgebracht, zu der vielleicht ein Dackel sein Erbgut beigesteuert hat. Sie ist zu lang für ihre Größe von vielleicht vierzig
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