Wanja und die wilden Hunde
ersten teuren Schokoriegel aus westdeutscher Produktion auf der Ladefläche der Lkws. Sie werden begutachtet, aber nicht gekauft. Nachdem im Fernsehen schon seit Jahren die Welt von Santa Barbara bestaunt wird, hätte ich angenommen, man würde zumindest einmal davon kosten wollen. Ich frage Baba Nastja, die gerade einen deutschen Schokoriegel betrachtet, warum sie »unsere« Süßigkeiten nicht will. Sie hebt die Hände vor sich in die Höhe, als wolle sie Teufelswerk abwehren, und antwortet: »Um Gottes willen, so etwas brauchen wir hier nicht.«
In meinem ersten Winter in Lipowka gehe ich mit Vera in den tief verschneiten Wald. Es ist schweißtreibend, sich durch den mehr als kniehohen Schnee zu kämpfen, aber die Poesie des Waldes ist so überwältigend, dass sich das Schwitzen lohnt. Jeder, der den russischen Märchenfilm Väterchen Frost – Abenteuer im Zauberwald gesehen hat, weiß, wovon ich rede. Dick mit Puderzucker überzogene Bäume, übersät von Milliarden Sonnendiamanten, tiefe Stille, hin und wieder das Rauschen einer kleinen Baum-Schneelawine und die Spuren der Waldtiere auf dem Schneeteppich.
Auf unserem Ausflug treffen wir eine Forstbrigade beim Holz schlagen. Einer der Männer, die mit Motorsägen die Bäume fällen, ruft: »Hallo, Mädchen, wollt ihr, dass euch die Wölfe fressen? Kommt lieber zu uns.«
Vera und ich vermuten dahinter eine leicht durchschaubare Anmache, winken spitz lachend ab und kämpfen uns weiter durch den Schnee.
Nach ungefähr fünfzig Metern beginnen wie auf Bestellung mehrere Wölfe zu heulen. Das Heulen klingt in unseren Ohren sehr nah. Wir bleiben beide wie festgefroren stehen und blicken uns an. Dann schauen wir hinüber zu den Waldarbeitern. Diese arbeiten scheinbar ungerührt weiter, beobachten uns jedoch vermutlich aus den Augenwinkeln. Ohne uns abzusprechen, machen wir im selben Moment kehrt und stapfen durch den hohen Schnee zu den Männern zurück.
»Na, Mädchen, wollt ihr mit anpacken?«, scherzt einer von ihnen gutmütig.
Wir bekommen warmen Tee und Wodka angeboten und werden dann mit einem Jeep zurück in das Dorf gefahren.
Milyi kommt jetzt nicht einmal mehr zum Fressen zu mir. Er verbringt die Tage mit seiner Pudeldame und die Nächte vor ihrem Haus. Er ist dünn geworden. Ich werfe ihm Futter hin, auf das sich die Hündin stürzt. Ich gebe ihm Futter aus der Hand, das er ohne rechte Leidenschaft frisst. Es scheint nichts außer Liebe in ihn hineinzupassen.
Eines Morgens steht Igor, der Besitzer der Pudeldame, vor meiner Tür.
»Sperr mal deinen Köter ein, wir fahren zurück in unser Dorf.« Er zeigt auf Milyi, der neben der Hündin steht und mit dem Schwanz wedelt, als er mich sieht.
Ich locke ihn ins Haus. Vertrauensvoll kommt er auf mich zu. Als ich die Tür schließen will, rennt er panisch zurück zur Pudeldame.
Ich hebe verzweifelt die Arme. »Meiner wird ohne deine nicht hierbleiben«, sage ich.
Wir blicken gemeinsam auf das Paar.
»Na ja, meine Hündin spielt ja auch wirklich gern mit deinem Hund. Die verstehen sich tatsächlich gut«, räumt Igor ein. »Soll er einfach mitkommen.«
In mir spüre ich im selben Moment zwei Regungen: Freude und Schmerz. Ich schaue auf den sanften Milyi, sehe, wie wohl er sich mit der Hündin fühlt, und denke: Ich muss froh sein, dass er auf diese Weise geht.
Aus Liebe.
Deutsche Medizin
1995, gegen Ende des Bosnienkrieges, verhilft mir der Zufall zu einem Transport von Medikamenten nach Russland.
Ich bin in Deutschland zu Besuch bei meinen Eltern und Freunden. Eine Freundin hilft gerade für ein paar Tage beim Sortieren abgelaufener Medikamente, die für das Kriegsgebiet gesammelt werden. Es sind Tabletten und Heilmittel jeglicher Art, die nur deshalb vom Verbraucher entsorgt werden sollen, damit er neue Medikamente kauft – ihre Wirkung haben sie auch nach ihrer Ablauffrist nicht eingebüßt.
Eine Woche lang beteilige ich mich an der Arbeit, und wir sortieren in einer bis unter die Decke mit Medikamenten gefüllten Wohnung die Päckchen nach gesundheitlichem Nutzen. Dazu lesen wir unzählige Beipackzettel und tragen jedes Medikament akribisch in Listen für den Zoll ein.
Während ich ein Medikament gegen Herzrhythmusstörungen in den Händen halte, erzähle ich dem ärztlichen Leiter der Aktion und den anderen Helfern von der erst 50-jährigen Bäuerin Olga aus Demuschkina, die seit Monaten wegen dieses Herzproblems im Krankenhaus liegt. Sie kann nicht behandelt werden, weil es keine Medikamente
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