War da noch was - Roman
konnte nicht aufstehen. Jemand kniete sich neben mich: Eine helfende Hand lag auf meinem Arm, dann noch eine. Das Gesicht einer jungen Frau, der Französin Françoise direkt vor meinem. Ihre besorgte Stimme: »Alles okay mit dir?«
Ich konnte nicht sprechen. Die Zeitung hielt ich immer noch mit einer Hand umklammert. Im Hintergrund herrschte nun große Betroffenheit. Füllige Französinnen machten sich um uns her zu schaffen und gaben Ratschläge, Leute standen herum, gestikulierten mit schrillen Stimmen. Françoise half mir auf die Beine und führte mich davon. Wir gingen zu einem Café, unter einen Sonnenschirm im Schatten. Betäubt setzte ich mich hin. Sie bestellte mir einen Pastis und für sich selbst ebenfalls, aber ich konnte nichts trinken. Mein Blick wanderte immer wieder zu der Zeitung. Wieder spürte ich das Blut aus meinen Adern weichen, fühlte die Kälte. Ich weiß noch, dass ich die Hände vor den Mund schlug, als ich schrie. Françoise griff quer über den Tisch, um mich am Arm zu packen, besorgt, mit weit aufgerissenen Augen, aber der Schrei hatte den ersten, entsetzlichen Druck der Wahrheit gelöst, den ersten Schock der Gewissheit. Ich spürte meine zitternden Hände vor den Augen und weinte laut los. Ich erinnere mich daran, dass Françoise einen heulenden, verängstigten Seffy aus dem Wagen hob, um ihn zu trösten, während ich meinen Kopf auf die Tischplatte legte und von heftigem Schluchzen, das vom Mittelpunkt der Erde zu kommen schien, geschüttelt wurde.
An die folgenden Ereignisse kann ich mich nur noch wenig erinnern, außer dass Françoise ein Hotelzimmer am Marktplatz hatte, in das sie mich brachte. Ich legte
mich aufs Bett, und sie ließ mich weiterweinen, ohne Ende, das Gesicht in den Kissen vergraben oder an die Decke gerichtet, auf dem Rücken liegend oder zusammengerollt in fötaler Position. Nach einiger Zeit gab sie mir eine Schlaftablette, und ich schlief. Immerhin hatte ich in der vergangenen Nacht ja nicht besonders viel Schlaf bekommen.
Stunden später wachte ich auf und sah sie draußen auf dem Balkon mit Seffy. Am Licht konnte ich erkennen, dass es früher Abend sein musste, und er stand auf ihrem Schoß und hopste mit seinen kräftigen Beinchen und nackten Füßen auf ihren Schenkeln, während sie auf die Leute unten zeigte. Das Kinderkarussell mit seinen im Kreis herumfliegenden Lichtern malte Muster auf die Wände des Zimmers; der Geruch von gerösteten Maroni stieg zu uns herauf.
Später am Abend, als die Sonne die ockerfarbenen Dächer vor unserem Fenster in ein warmes Licht tauchte, und nachdem Seffy gefüttert und gewickelt wieder in seinem Wagen schlief, gingen wir hinunter in ein Café. Ich fühlte mich schwach und erschöpft, aber nun trank ich endlich den Pastis. Mehr als einen sogar. Und ich erzählte ihr von Dominic. Davon, dass ich ihn liebte oder vielmehr geliebt hatte und dass kein anderer je solche Gefühle in mir erweckt hatte. Wie ich mich nach ihm verzehrt hatte, immer, jeden Tag, als er noch lebte und jetzt, da er tot war … er konnte doch nicht tot sein. Dann starrte ich wieder in purem Unglauben auf meinen Pastis, und die Tränen strömten mir über die Wangen.
In diesen Momenten ergriff Françoise meine Hand und drückte sie, schaukelte mit der anderen den Kinderwagen. Ansonsten war sie still und murmelte nur von Zeit zu Zeit ein paar mitfühlende Worte. Später, als ich unglücklich
in meinem Stuhl zusammengesackt war, erzählte sie mir ein wenig von sich. Sie war älter als ich, dreißig, und sie erzählte mir, dass sie sieben Jahre lang einen Mann geliebt hatte. Er war aus Paris, und sie hatten zusammengelebt, hatten eine Wohnung auf dem Montmartre gekauft. Und dann hatte er sie eines Tages ohne jede Erklärung verlassen und sich ein paar Wochen später mit ihrer Freundin verlobt. Diese Freundin erwartete nun im August ein Kind von ihm. Françoise erzählte mir, dass sie nicht in Paris hatte bleiben können mit dem Wissen, dass die beiden um die Ecke wohnten, und dass sie deswegen erst vor zwei Monaten nach England zurückgekehrt war.
»Zurückgekehrt?«
»Ja, ich bin nämlich zur Hälfte Engländerin. Mein Vater war Franzose, aber meine Mutter ist aus England.«
»Aha.«
Ich hatte mich schon über ihr Londoner Englisch gewundert, in dem keine Spur von französischem Akzent zu hören war. Sie erklärte mir, dass Françoise du Bose nur ihr Pseudonym war, um die Kunden von der Echtheit ihres Brocante zu überzeugen, eigentlich hieße sie
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