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Waren Sie auch bei der Krönung?

Waren Sie auch bei der Krönung?

Titel: Waren Sie auch bei der Krönung? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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Tochter war, die wärmsten Gefühle empfand? Was konnte er nur tun, wenn der Augenblick kam, auf den sie, wie er wußte, voller Sehnsucht wartete — die Vorbeifahrt der Königin? Was würde er ihr dann sagen? Seit länger als einem Monat, seit von der Reise zum erstenmal die Rede war, hatte sich ihr ganzes Leben und Wesen auf die Erregung dieses Augenblicks eingestellt. Er fühlte, daß er seine eigene Qual kaum mehr ertragen konnte.
    Er hielt zu diesem Zeitpunkt seine Tochter auf dem Arm. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter. Verstohlen sah er sie an. Ihre Augen waren offen, aber ihre Gedanken waren, das konnte er merken, nach innen gerichtet, wie so oft, wenn sie sich aus der Außenwelt zurückzog. Es war, als ob sie ahnte, daß all das Getöse und Blasen und Pfeifen mit ihrer Sehnsucht nichts zu tun habe. Die Königin — ihre Königin — war noch immer weit entfernt. Sie wartete.
    Es war kurz vor vier Uhr nachmittags, als der gräßliche Regen, der den ganzen Tag niedergegangen war, endlich aufhörte. In der bis dahin gleichmäßig düster-grauen Wolkendecke erschienen Risse, und hin und wieder kam die Sonne durch. Der Himmel und die Gemüter erhellten sich. Das vorübergehende Sichtbarwerden der Sonne, die zeitweilige laue Wärme auf den Wangen wurden fast wie ein Omen begrüßt. Gewiß war dies ein Bote besserer Dinge und Zeiten! Aber die Schranke blieb fest verschlossen.
    Ein neuer Laut wurde vernehmbar; er konnte ebenso gefühlt wie gehört werden. Es begann als ein fernes, ununterbrochenes Brausen, wie man es hört, wenn man eine Meermuschel ans Ohr legt, aber seine Tonhöhe und Intensität steigerte sich, schwoll an und näherte sich immer mehr. Die Königin nahte endlich heran. Es war der Zeitpunkt, da ihre goldene Kutsche planmäßig über Hyde Park Corner fahren sollte. Und je stärker die sich nähernde Sturzflut von Hochrufen anschwoll, desto stiller wurden jene, die noch hinter der hölzernen Schranke standen, da sich jedes Ohr mühte, wenigstens zu hören, was nicht gesehen werden konnte.
    Die mächtige klingende Woge floß durch Piccadilly, ergoß sich über Wellington Place und hallte von den Gebäuden in Hyde Park Corner und Knightsbridge wider. Über der gewaltigen Sturzflut war jedoch ein anderes Geräusch zu erkennen: der Hufschlag schwerer Pferde und das Rollen einer großen, polternden, ungefederten Kutsche.
    Jetzt begann Gwenny zu schreien: «Vati, Vati, sie kommt! Ich kann nichts sehen! Ich kann gar nichts sehen!»
    Kein menschliches Wesen konnte das länger ertragen. Will Clagg drängte sich zur Barriere vor, wo der junge Polizist stand: «Um Gottes willen, Mensch, hast du denn kein Herz im Leibe? Dieses Kind ist fast zweihundert Meilen weit gereist und war die ganze Nacht wach, nur um die Königin zu sehn. Laß mich vorbei, oder ich stoß dich um!»
    Tosende Lärmkatarakte übertönten das Heranrollen der goldenen Kutsche und umbrausten alles. Angesichts des jämmerlichen Heulens des Kindes, verwirrt und beunruhigt, bereitete sich der Polizist auf Unannehmlichkeiten vor. Er durfte unter keinen Umständen der Drohung mit Gewalt weichen und diese Leute durchlassen. Die Woge von Hochrufen, die die Erde erzittern ließ, entnervte und ängstigte ihn noch mehr. Er stand aufrecht und verhinderte mit ausgebreiteten Armen den Zutritt.
    Will Clagg ballte die Hand zur Faust und holte aus. In diesem Augenblick fühlte er, wie ihn jemand am Ellbogen faßte und eine Stimme nahe seinem Ohr sagte: «Nur gemach, Mensch. Du wirst nicht weit kommen, wenn du einen Polizisten niederschlägst. Wir werden der Kleinen schon helfen. Laß mich mal auf deine Schulter steigen.»
    Clagg sah nicht viel von dem Mann. Er trug einen beigefarbenen Regenmantel, seine Mütze war tief ins Gesicht gedrückt, um es vor dem Regen zu schirmen. Ein Augenpaar und ein kurzer, struppiger Schnurrbart — und dann merkte er, daß er seine Hände verklammert hatte, und der Mann hatte einen Fuß darauf gesetzt und sich mit der Behendigkeit eines Turners auf seine Schulter geschwungen. Dann beugte er sich nieder und rief: «Und jetzt los, hebt das Mädchen in die Höhe! Gib uns die Hand, Kleines! So ist's gut. Und jetzt herauf mit ihr! Wie auf einem Parkettsitz im Theater!»
    So standen sie zu dritt übereinander wie Akrobaten im Zirkus, nur daß Gwenny, um das Gleichgewicht zu bewahren, sich an seinem Kopf anklammerte, während der Fremde ihre Beine fest auf seinen Schultern hielt. Gwenny war jetzt zwei Köpfe höher als die Barriere

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