Warm Bodies
Erstaunen kann ich spüren, wie ein Hauch Energie mein Hirn durchströmt. Natürlich ist das unmöglich, denn ich habe ja gar keinen Blutkreislauf, in den der Alkohol eintreten könnte. Aber ich spüre ihn trotzdem. Ob das psychosomatisch ist? Oder eine entfernte Erinnerung ans Trinken, ein Überbleibsel meines alten Lebens? Wenn ja, dann war ich ganz offensichtlich ein Leichtgewicht.
Julie bemerkt meine Verblüffung und grinst. »Trink aus«, sagt sie. »Ich steh eh mehr auf Wein.«
Ich nehme noch einen Schluck. Ich kann ihren Himbeer-Lipgloss am Flaschenhals schmecken. Ich erwische mich dabei, wie ich sie mir geschminkt für ein Konzert vorstelle. Ihr nackenlanges Haar ist gestylt, ihr zarter Körper glänzt in einem roten Partykleid, und ich küsse sie, der Lippenstift hinterlässt Spuren auf meinem Mund, verteilt hellrote Farbe auf meinen grauen Lippen …
Ich schiebe die Flasche auf Sicherheitsabstand von mir weg.
Julie lacht in sich hinein und wendet sich wieder ihrer Mahlzeit zu. Sie stochert eine Weile darin herum und ignoriert mich. Ich bin drauf und dran, an einem Small-Talk-Versuch zu scheitern, als sie wieder aufsieht. Alle Spuren von Herzlichkeit sind aus ihrem Gesicht gewichen, und sie sagt: »Also gut, R. Warum hältst du mich hier fest?«
Die Frage trifft mich wie ein unerwarteter Schlag. Ich sehe zur Decke hinauf. »Pass auf dich auf.«
»Schwachsinn.«
Schweigen. Sie starrt mich an. Ich weiche ihrem Blick aus.
»Hör zu«, sagt sie. »Mir ist klar, dass du mir in der Stadt das Leben gerettet hast. Und ich schätze mal, ich bin dirdankbar dafür. Also ja, bin ich. Danke, dass du mein Leben gerettet hast. Oder mich verschont hast. Oder was auch immer. Aber du hast mich hier rein gebracht, also kannst du mich bestimmt auch wieder hier rausbringen. Also noch mal: Warum hältst du mich hier fest?«
Ihr Blick brennt wie heißes Eisen auf meinem Gesicht, und mir wird klar, dass ich aus der Nummer nicht rauskomme. Ich lege eine Hand auf meine Brust, über mein Herz. Mein »Herz«. Steht dieses bedauernswerte Organ noch für etwas? Es liegt reglos in meiner Brust, pumpt kein Blut, erfüllt keinen Zweck, und dennoch scheinen meine Gefühle dort zwischen seinen kalten Wänden ihren Ursprung zu nehmen. Meine leise Trauer, meine diffuse Sehnsucht, meine raren Momente der Freude. Sie strömen inmitten meiner Brust zusammen und sickern dort heraus, verdünnt und schwach, aber real.
Ich presse die Hand auf mein Herz. Dann strecke ich sie langsam nach Julie aus und lege sie auf ihres. Irgendwie schaffe ich es, ihr in die Augen zu sehen.
Sie sieht hinab auf meine Hand und starrt mich entgeistert an. »Willst du. Mich. Verarschen.«
Ich ziehe die Hand zurück, stiere auf den Tisch und bin froh, dass ich nicht rot werden kann. »Müssen … warten«, murmele ich. »Sie … glauben …du bist … neu konvertiert. Sie … merken das.«
»Warten? Wie lange?«
»Paar … Tage. Sie … vergessen.«
»Herrgott«, seufzt sie, legt die Hand vor die Augen und schüttelt den Kopf.
»Dir … passiert … nichts«, sage ich zu ihr. »Versprochen.«
Das ignoriert sie. Sie zieht einen iPod aus ihrer Tasche und stopft sich Kopfhörer in die Ohren. Sie wendet sichwieder ihrem Essen zu und hört Musik, die für mich nur ein schwaches Zischen ist.
Dieses Date läuft nicht gut. Wieder einmal bin ich überwältigt von der Absurdität meiner Gedanken. Am liebsten würde ich aus meiner Haut kriechen, vor meinem hässlichen, scheußlichen Fleisch davonlaufen und ein Skelett sein, nackt und anonym. Ich bin schon im Begriff aufzustehen und Julie allein zu lassen, als sie einen der Knöpfe aus dem Ohr zieht und mich mit ihrem Blick durchbohrt.
»Du bist anders, stimmt’s?«, sagt sie.
Ich antworte nicht.
»Ich habe von einem Zombie noch nie etwas anderes als ›Hirn!‹ und dieses dämliche Stöhnen gehört. Und ich habe noch nie einen Zombie getroffen, der in Menschen irgendwas anderes als Futter sieht. Mir hat definitiv noch nie einer einen Drink ausgegeben. Gibt es … noch andere wie dich?«
Ich möchte schon wieder rot werden. »Weiß nicht.«
Sie schiebt ihre Nudeln auf dem Teller herum. »Ein paar Tage«, wiederholt sie.
Ich nicke.
»Was soll ich tun, bis es sicher genug ist, dass ich abhauen kann? Ich hoffe, du erwartest nicht, dass ich die ganze Woche lang in einem Flieger sitze und Blutbäder nehme.«
Ich denke kurz nach. Ein ganzer Regenbogen aus Bildern spannt sich auf einmal vor meinem inneren Auge,
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