Warm Bodies
Ecke verschwindet, dreht er sich zu mir um, und es kribbelt auf meiner Haut. Wird Perrys Flut aus Wasser sein, sanft und reinigend, oder ganz anders? Etwas rührt sich unter meinen Füßen. Ein schwaches Beben, als ob die Knochen jedes Mannes und jeder Frau, die jemals begraben wurden, tief drunten in der Erde klappern. Als würden sie die Kruste zum Bersten bringen. Das Magma aufwühlen.
Der Obstgarten, stellt sich heraus, gehört gar nicht zu den landwirtschaftlichen Betrieben des Stadions. Stattdessen ist er die erste und einzige Kneipe vor Ort, oder zumindest doch das, was angesichts der neuen Prohibition einer Kneipe am nächsten kommt. Um hinzukommen, bedarf es einer mühseligen senkrechten Reise durch das Escher-ähnliche Stadtbild. Zuerst steigen wir in einem baufälligen Wohnturm vier Treppen hoch, während die Bewohner uns durch die Türen ihrer Apartments anstarren. Dann geht es über eine schwindelerregende Querverbindung zu einem nebenstehenden Haus – unten stehen ein paar Jungs, die versuchen, unter Noras Hemd zu gucken, während wir über einen Steg aus Maschendraht wanken, der zwischen den Kabeln aufgespannt ist. Glücklich angekommen, stapfen wir noch drei Treppen hoch, bevor wir endlich eine hoch über den Straßen gelegene, windige Terrasse erreichen. Der Lärm der Menge röhrt durch die Tür auf der anderen Seite: eine weiße Platte aus Eichenholz, auf die ein gelber Baum gemalt ist.
Ungeschickt zwänge ich mich an Julie vorbei, um ihr die Tür aufzuhalten. Nora grinst sie an, und Julie verdreht die Augen.
Der Raum ist brechend voll, doch die Stimmung ist seltsam gedrückt. Kein Rufen, kein Abklatschen, keine beduselten Fragen nach Telefonnummern. Der Obstgarten mag so obskur und geheim sein wie eine Mondscheinkneipe während der Prohibition, Alkohol wird hier dennoch nicht ausgeschenkt.
»Kann es«, sagt Julie, während wir uns unseren Weg durch die artige Menge bahnen, »etwas Blöderes geben als einen Haufen Ex-Marines und Bauarbeiter, die ihre Sorgen in einer trostlosen Saftbar ertränken?«
Der Obstgarten ist meiner Ansicht nach das erste Gebäude in dieser Stadt, das einen Hauch von Charakter hat. Die komplette obligatorische Kneipenausstattung ist hier am Start: Dartscheiben, Poolbillardtische, Flachbildfernseher mit Football. Im ersten Augenblick verblüfft mich die Übertragung – wird etwa immer noch gespielt? Gibt es da draußen noch Menschen, die sich trotz allem mit solchen Nichtigkeiten abgeben? Doch dann, zehn Minuten nach Beginn des dritten Viertels, verzerrt sich das Bild wie bei einem Videotape und springt zu einem anderen Spiel, die Mannschaften und Ergebnisse verändern sich mitten in einem Angriff. Fünf Minuten später wechseln sie wieder, nur ein kurzes Holpern markiert die Klebestelle. Keiner der Sportfans scheint es zu merken. Mit leerem Blick verfolgen sie die gekürzten, sich endlos wiederholenden Spiele und nippen wie Darsteller in einem Kostümfilm an ihren Drinks. Einige der Gäste bemerken mein Starren, und ich sehe weg, nur um gleich darauf wieder hinzuschauen. Etwas von dieser Szene bohrt sich in meinen Kopf. Wie der Schemen auf einem Polaroid entwickelt sich ein Gedanke.
»Drei Grapefruit«, sagt Julie zum Barkeeper, der leicht verlegen wirkt, während er die Drinks macht. Wir setzen uns auf Barhocker, und die beiden Mädchen reden. DieMusik ihrer Stimmen tritt an die Stelle des polternden Classic Rock aus der Jukebox, aber dann verflüchtigt sich selbst das in einem gedämpften Summen. Ich starre auf die Fernseher. Ich starre auf die Leute. Unter ihren Muskeln kann ich die Linien ihrer Knochen sehen. Über ihren Gelenken spannt sich die straffe Haut. Ich sehe ihre Skelette, und das Bild, das sich in meinem Kopf entwickelt, verblüfft mich: Es ist eine Blaupause der Knochen in ihnen. Ein flüchtiger Blick auf ihre verzerrte, verdorrte Seele.
Das Universum verdichtet sich. Alle Erinnerungen und alle Möglichkeiten komprimieren sich zum kleinsten aller Punkte, wenn das letzte Fleisch von ihnen abfällt. In dieser Einzigartigkeit zu existieren, auf alle Ewigkeit in einem Zustand der Stasis gefangen zu sein – das ist die Welt der Knochen. Sie sind totäugige Ausweisbilder, eingefroren in ebenjenem Moment, in dem sie ihre Menschlichkeit aufgegeben haben. Dieser hoffnungslose Augenblick, wenn sie den letzten Faden zerschnitten haben und in den Abgrund gestürzt sind. Jetzt ist nichts mehr übrig. Kein Gedanke, keine Regung, keine Vergangenheit, keine
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