Warnschuss: Thriller (German Edition)
möglicherweise zum Anlass nehmen, ihn von diesem Fall abzuziehen oder ihn vom Dienst zu suspendieren.
Das durfte nicht passieren. Darum würde die Begegnung einstweilen sein Geheimnis bleiben, ihm blieb nichts anderes übrig, als seine Schuld zu schultern.
Er hatte eine Menge Gründe, sich schuldig zu fühlen. Elise hatte ihn angefleht, ihr zu glauben. Sie hatte um ihr Leben gefürchtet. Sie hatte ihn um Hilfe angebettelt. Er hatte sie ihr verweigert. Dadurch hatte er sie entweder dazu getrieben, Napoli zu töten, oder er hatte sie Napoli ans Messer geliefert, wenn sie sich nicht ohne jede Hoffnung auf Hilfe von der Brücke gestürzt hatte.
»Jesus.« Er presste die Hände aufs Gesicht und fiel gegen die Lehne zurück.
Als er sieben Jahre alt war, hatte die Katze in seiner Familie Junge geworfen. Seine Eltern hatten ihm versprochen, dass er sich ein Junges aussuchen durfte. Die anderen würden weggegeben.
Er wusste sofort, welches er haben wollte. Es war eindeutig das niedlichste im ganzen Wurf. Rund um die Uhr hielt er über der Katzenschachtel Wache. Jeden Tag fragte er, wann er das Kätzchen mit auf sein Zimmer nehmen konnte, damit es dort wohnte.
Seine Mutter antwortete jedes Mal: »Sobald es abgestillt ist, Duncan.«
Das dauerte ihm schließlich zu lang. Er hatte Angst, dass eine Adoptivfamilie das Kätzchen an sich nehmen könnte, bevor er seine Besitzansprüche gesichert hatte. Eines Abends schlich er, nachdem seine Eltern zu Bett gegangen waren, in die Küche und nahm der Mutter das Neugeborene weg. Er legte es zu sich ins Bett. Das verängstigte Kätzchen maunzte noch, als Duncan längst eingeschlafen war.
Am nächsten Morgen war es tot.
Er weinte tagelang und ließ sich einfach nicht trösten. Obwohl er nichts Böses gewollt hatte und obwohl seine Eltern nicht mit ihm schimpften, gab er sich die Schuld am Tod des Tieres und kam nicht darüber hinweg. Er hatte sich dieses Kätzchen mehr als alles andere gewünscht. Er hatte es mit der uneingeschränkten Leidenschaft eines Siebenjährigen geliebt. Doch er hatte es mit seiner Selbstsucht getötet.
Über eine Stunde lang saß er in tiefem Elend, wo er nur wenige Stunden zuvor in Ekstase geschwebt war. Er hätte sich wünschen sollen, er wäre ihr nie begegnet. Oder wenigstens, dass er sich nie in ihre Nähe gewagt hätte, dass er sie nie berührt hätte. Stattdessen wünschte er sich, er wäre zärtlicher gewesen. Er wünschte, sie hätten sich wenigstens einmal liebevoll geküsst.
Aber wenn er sich mehr Zeit gelassen und ihr seine Zärtlichkeit gezeigt hätte, hätte das dann das Feuer in seiner persönlichen Hölle gedämpft oder es zusätzlich geschürt?
Hatte sie trotz der ungestümen Wut, in der sie sich vereint hatten, gespürt, wie er sich danach gesehnt hatte, es könnte anders sein? Hatte sie die Emotionen gespürt, die er ausdrücken wollte und nicht konnte? Hatte sie?
Er würde es nie erfahren.
20
Kurz vor Mittag kehrte Duncan in die Zentrale zurück.
»Es gibt Fortschritte«, informierte ihn Worley, sobald er durch die Tür trat.
Er blieb auf der Schwelle stehen. »Ihr habt sie gefunden?«
»Ich sagte Fortschritte, nicht Wunder.«
Duncan hatte das leer stehende Haus verlassen und war nach Hause gefahren, vorgeblich um ein paar Stunden zu schlafen. Er hatte sich ins Bett gelegt, aber kein Auge zugetan, zum Teil aus Angst, zum Teil in gespannter Erwartung eines Anrufs, der ihn benachrichtigte, dass Elise gefunden worden war … so oder so.
Schließlich hatte er aufgegeben, schlafen zu wollen. Zwischen dem Duschen und Rasieren hatte er ein halbes Dutzend Anrufe eingeschoben und mit jeder an der Suche beteiligten Behörde telefoniert. Als leitender Ermittler hatte er darauf bestanden, persönlich mit dem jeweils Zuständigen zu sprechen. Keine hatte etwas Wesentliches zu berichten, aber er hatte auch nicht erwartet, dass es einen Durchbruch gegeben hatte. Sobald es einen gab, würde er es erfahren. Stattdessen machte er noch einmal Druck, indem er alle an Richter Lairds Ansehen in der Stadt erinnerte und daran, welche Bedeutung Chief Taylor der Suche nach Mrs Laird gab.
Die Küstenwache hatte mehrere Hubschrauber losgeschickt, die im Tiefflug die Küste abflogen. Auf den Stränden waren Patrouillen unterwegs. Das alles hörte sich gut an, aber im Grunde rechnete niemand damit, dass Elise am Atlantik auftauchen würde.
Die Flussufer und Auen wurden immer noch von erschöpften Suchhunden und ihren Ausbildern durchkämmt.
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