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Warte auf das letzte Jahr

Warte auf das letzte Jahr

Titel: Warte auf das letzte Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip K. Dick
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Angestrengt, verzweifelt dachte sie darüber nach. Es war so einfach und trotzdem so bedeutsam.
    Die Schnittwunde an ihrem Finger war verschwunden.
    Sie saß da, untersuchte die Stelle, strich über die glatte, unversehrte Haut. Keine Verletzung. Keine Narbe. Ihr Finger war wie zuvor … als ob die Zeit zurückgelaufen wäre. Und auch von dem Verband war nichts mehr zu sehen, und das schien ihre Vermutung zu bestätigen, es vollkommen verständlich zu machen, trotz ihrer rasch nachlassenden geistigen Fähigkeiten.
    »Schau dir meine Hand an«, befahl sie dem Taxi und hob ihren Arm. »Kannst du irgendeine Verletzung erkennen? Würdest du glauben, daß ich mich vor einer halben Stunde geschnitten habe?«
    »Nein, Miss«, erklärte das Taxi, während es über die flache Einöde Arizonas hinwegflog und weiter nördlich in Richtung Utah schoß. »Sie wirken unverletzt.«
    Jetzt verstehe ich, wie die Droge wirkt, dachte sie. Warum unter ihrem Einfluß die Dinge und die Menschen ihre Substanz zu verlieren scheinen. Es ist nicht so rätselhaft, wie ich dachte, und keinesfalls leide ich unter Halluzinationen; der Schnitt ist wirklich verschwunden – dies ist keine Illusion. Werde ich mich später daran erinnern? Vielleicht werde ich es vergessen; vielleicht werde ich vergessen, daß ich mich geschnitten habe, wenn die Wirkung der Droge weiter zunimmt und mich mehr und mehr verschlingt.
    »Hast du etwas zum Schreiben?« fragte sie das Taxi.
    »Hier, Miss.« Aus einem Schlitz in der Rückwand des Vordersitzes fiel ein Schreibblock heraus, an dem ein Stift befestigt war.
    Sorgfältig schrieb Kathy: JJ-180 hat mich in jene Zeit zurückversetzt, da ich mich noch nicht in den Finger geschnitten hatte. »Welches Datum haben wir?« fragte sie das Taxi.
    »Den 18. Mai, Miss.«
    Sie versuchte sich zu besinnen, ob diese Auskunft richtig war, doch sie fühlte sich wie betäubt; entglitt ihr bereits alles? Gut, daß sie diese Notiz gemacht hatte. Oder nicht? Der Block mit dem Schreibstift lag in ihrem Schoß.
    Der Text lautete: JJ-180 hat mich …
    Und das war alles.
    Und dennoch wußte sie, daß sie den Satz zu Ende geschrieben hatte, wie immer er auch lauten mochte; sie konnte sich nur nicht mehr daran erinnern. Reflexartig untersuchte sie ihre Hand. Aber was hatte ihre Hand damit zu tun? »Taxi«, stieß sie hervor, als sie spürte, wie sie langsam ihr seelisches Gleichgewicht verlor, »wonach habe ich dich soeben gefragt?«
    »Nach dem Datum.«
    »Und davor?«
    »Sie haben um Schreibutensilien gebeten.«
    »Davor habe ich dich nichts gefragt?«
    Das Taxi schien zu zögern. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. »Nein, Miss – nichts.«
    »Nichts über meine Hand?«
    Nein, kein Zweifel, die Elektronik des Taxis zögerte tatsächlich. Schließlich sagte es mit seiner knarrenden Stimme: »Nein, Miss.«
    »Danke«, murmelte Kathy und lehnte sich in ihrem Sitz zurück, strich über ihre Stirn und dachte: also ist das Taxi ebenfalls verwirrt. Und demnach ist es keine subjektive Erfahrung; die Zeitverzerrung wirkt auf mich und auf meine Umgebung.
    Wie als Entschuldigung, weil es ihr nicht hatte helfen können, erkundigte sich das Taxi: »Die Reise wird noch einige Stunden dauern; möchten Sie gerne in der Zwischenzeit fernsehen, Miss? Der Bildschirm befindet sich direkt vor Ihnen; Sie brauchen nur den Fußschalter zu bedienen.«
    Automatisch schaltete sie den Bildschirm mit einem kurzen Druck ihres Zehs ein; sofort erhellte er sich und enthüllte das Bild einer vertrauten Gestalt, die ihres Führers Gino Molinari, der soeben eine Rede hielt.
    »Sind Sie mit dem Kanal einverstanden?« fragte das Taxi. Es klang noch immer entschuldigend.
    »Oh, gewiß«, bestätigte sie. »Außerdem wird es auf allen Kanälen übertragen, wenn er sich aufrafft und eine seiner großspurigen Reden zum besten gibt.« So lautete das Gesetz.
    Und trotzdem erschien ihr dieses vertraute Spektakel auf eine absonderliche Weise fremd; sie starrte auf den Monitor und dachte: Er sieht jünger aus. Er sieht genauso aus wie damals, als ich noch ein Kind war. Enthusiastisch, voller Leben und Überzeugungskraft, und seine Augen funkeln mit der alten Intensität; sein ursprüngliches Selbst, das niemand vergessen hat, obwohl es schon so lange nicht mehr existiert. Nun, offensichtlich existierte es doch noch; sie sah es jetzt mit ihren eigenen Augen, und sie war verwirrter denn je.
    Ist JJ-180 dafür verantwortlich, fragte sie sich, ohne eine Antwort darauf zu

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