Warte, Bald Ruhest Auch Du: Mitchell& Markbys Dritter Fall
Mädchenstimme
»Meredith!« rief.
»Jess!« Meredith stürzte vorwärts und rüttelte an der Klinke.
»Sie ist zugesperrt!« rief Jessica.
»Sie haben mich eingesperrt!« Michael hat also recht gehabt, dachte Meredith grimmig. Auf Greyladies hatte sich seit den Tagen von Mary Anne nichts geändert. Sie drehte den Schlüssel um, und die Tür flog auf. Jessica packte sie, zerrte sie ins Zimmer und knallte die Tür hinter ihnen zu. Meredith stolperte zu einem Korbsessel und ließ sich erschöpft hineinfallen. Keuchend und einen Moment lang unfähig zu sprechen, schaute sie sich in ihrer neuen Umgebung um. Es war ganz offensichtlich Jessicas Zimmer. Die Tapete war pastellblau mit Muster aus Vergißmeinnicht und die Steppdecke auf dem Bett aus dunkelblauem Satin. Auf einer Kommode thronten von den Spielen der kleinen Jessica arg mitgenommene Stofftiere, und zwischen ihren Plüschpfoten steckten Fotos. Jess im College, Jess auf dem Pony, ein jüngerer Alwyn, der in die Kamera lächelte, entspannt und glücklich aussah. Ein einziger Blick auf dieses Foto verriet, wie sehr Alwyn sich verändert hatte und wie groß der Streß war, unter dem er seit Jahren lebte. Nervös warf Jessica das lange Haar zurück und beugte sich über Meredith. Leise und hastig begann sie zu sprechen:
»Ich hab Sie durchs Fenster gesehen, als Sie auf den Hof fuhren.« Ihre Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern:
»Ich konnte das Fenster nicht öffnen, konnte Sie nicht rufen, weil Alwyn es verkeilt hat. Er hat die Keile hineingehämmert, und ich hab sie nicht rausbekommen. Ich hab’s versucht …« Sie zeigte Meredith ihre Hände. Die Fingernägel waren eingerissen und blutig.
»Ich wollte Sie warnen, hatte aber keine Möglichkeit. Warum sind Sie gekommen?«
»Weil Michael sich um Sie gesorgt hat. Er ist bei Dolly, und ich habe ihm versprochen, nach Ihnen zu sehen. Warum hat man Sie eingesperrt?« Meredith atmete noch immer keuchend.
»Weil – weil er hier ist … Und sie wollten nicht, daß ich ihn sehe.« Jessica warf den Kopf zurück wie ein erschrecktes Pony, das ein neues, unheimliches Geräusch hört, und noch bevor Meredith fragen konnte:
»Wer ist hier?«, fügte Jessica verzweifelt hinzu:
»Sie kommen zurück.« Hektisch schaute Meredith sich im Zimmer um.
»Ich könnte mich im Schrank verstecken.«
»Ja, ja!« Jessica lief auf das Möbelstück zu, blieb dann jedoch stehen und rief erschrocken:
»O Meredith, der Schlüssel!«
»Schlüssel?« Im ersten Moment verstand Meredith nicht, dann sah sie entsetzt, daß sie den Zimmerschlüssel in der Hand hielt. Ihre Finger mußten ihn umklammert haben, als Jessica sie ins Zimmer gezogen hatte, und auch jetzt hielt sie ihn noch fest.
»Er wird es merken, Alwyn wird natürlich merken, daß er nicht mehr im Schloß steckt«, flüsterte Jessica.
»Wir müssen ihn wieder hineintun.«
»Jess«, flüsterte Meredith,
»wissen Sie, was die da drüben auf dem Heuboden haben?«
»Nein, das weiß ich nicht … Nur, daß es etwas ist, von dem ich nichts wissen soll … Meredith, der Schlüssel!«
»O ja …« Meredith gab ihn ihr, und Jessica flog zur Tür und öffnete sie. Auf dem winzigen Vorplatz stand keuchend und schlammbedeckt Alwyn.
»Sie sind eine verdammte Plage, das sind Sie«, sagte er heiser, als sein Blick auf Meredith fiel.
»Jess, du gehst wieder hinein und verhältst dich ruhig. Dein verdammtes Pony hat eben seine Box demoliert, aber ich hab’s geschafft, es auf die Koppel zu jagen, dort kann es sich austoben. Sie, Meredith, hinunter!«
»Ich komme mit«, sagte Jessica laut.
»Nein, das tust du nicht, Jess. Die Sache hat nichts mit dir zu tun.«
»Heroin«, sagte Meredith deutlich.
»Sie haben Heroin auf dem Heuboden, Jess. Pakete mit Heroin versteckt in den Milchpulversäcken.« Alwyns gerötetes Gesicht wurde kalkweiß, und einen Moment lang sah Meredith wirklich Mord in seinen Augen. Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie konnte es nicht verhindern, daß sie automatisch zurückwich. Dann drängte sich eine laute Stimme zwischen sie.
»Du Narr, Alwyn!« sagte Jessica. Ihre Angst schien völlig verschwunden.
»Du großer, dummer Idiot! Hast dich von ihm dazu überreden lassen, nicht wahr?« Ihre Stimme wurde lauter und immer vorwurfsvoller:
»Hast dich seit jeher von ihm zu allem überreden lassen! Er wird damit davonkommen, verschwinden, wie er es immer getan hat, und du kannst die Scherben aufsammeln. Siehst du das denn nicht? Er hat sich nicht
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