Warten auf den Monsun
die sie damals verflucht hatte, weil sie auch ihre Noten angeknabbert hatte, war sie nun mit rückwirkender Begeisterung dankbar. Sie kniete auf dem Boden, mit ihrem Nageletui als Handwerkszeug, und pulte den Propfen aus dem Loch im Fußboden. Daß sie auch noch Zeitungsschnipsel und kleine Stücke Sisalschnur hineingestopft hatte, war ihr entfallen. Mit einer Pinzette zupfte sie nach und nach alles heraus. Sie mußte zwar an den Brief des Maharadschas denken, doch ihre Neugier und ihre Sehnsucht waren viel stärker, und so machte sie weiter. Das letzte Kügelchen aus zerknülltem Zeitungspapier ploppte heraus. Sie blies die Kerze aus und schaute durch das Loch. Zwischen den Brettern, aus denen die Decke des Klavierzimmers bestand, sah sie schmale, von einer Kerze beleuchtete Ritzen. Um besser sehen zu können, mußte sie sich flach auf den Boden legen, mit dem Auge genau über dem Loch. Mehr als ein halber Millimeter Raum war zwischen den Brettern nicht, aber plötzlich sah sie ein Stück seiner Hand, die ein rotes Band hielt. Das muß an ihrem Halsausschnitt sein, hörte sie ihn denken. Seine Hand zog sich ruckartig zurück, nur das Band lag noch auf dem Tisch. Charlotte rutschte etwas vor und hoffte, ihn wieder sehen zu können. Sie konnte seine Gedanken nicht mehr hören, seit er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Ob er das Band wieder in die Hände nahm? Hatte er gespürt, daß sie ihn heimlich beobachtete? War sie zu weit gegangen? Sie war schlimmer als die Frau von Nikhil Nair, dachte sie, die belauerte für ihre Klatschgeschichten bestimmt niemandem wie ein Dieb in der Nacht. Charlotte wollte sich gerade zurückziehen, als seine Hand wieder zu dem roten Band griff. Wieder spürte sie, daß er an sie dachte und daß das Band für sie bestimmt war. Möchtest du, daß ich dir den Stoff bringe? Der Gedanke entglitt ihr, bevor er ihr selbst bewußt war. Mit einem Ruck zog sie sich zurück, als ob er sie ertappt hätte. Rasch legte sie die Hand auf das Loch. Er durfte nicht wissen, daß sie hier in ihrem Schlafzimmer lag und ihn bespitzelte. Sie wollte nach dem Korken greifen, den sie herausgezogen hatte, aber ertastete nur die Zeitungsschnipsel und die Bindfadenstücke. Ihre Hand suchte im Dunkeln weiter. Der Korken mußte hier sein. Sie mußte das Loch verschließen, bevor noch mehr Gedanken zu ihm hinunterspringen konnten. Mit einer Hand auf der Öffnung und der anderen ringsum suchend, hörte sie, daß unten die Tür auf- und wieder zuging. War er fertig mit der Arbeit und ging er in das Zimmer neben der Küche zurück, um sich schlafen zu legen? Sie fand den Korken. Charlotte konnte sich nicht beherrschen und beugte sich mit dem Korken in der Hand noch einmal vor, um in das Loch zu spähen. Das Licht brannte noch. Sie sah, wie seine Hand den leeren Teller wegschob. Er hat alles aufgegessen, dachte sie und spürte seine verwirrten Gedanken zu ihr hochfliegen. Gedanken, die wissen wollten, wo sie war. Schnell drückte sie den Korken in das Loch und stopfte ihn so tief hinein, daß er sich nicht mehr ohne Mühe herausziehen ließ. Sie kroch von der Öffnung weg in eine Ecke des Zimmers. Sie hörte ihn nicht mehr, aber würde er sie auch nicht mehr hören? Hatte er nicht viel feinere Antennen, weil er nicht sprechen konnte? Ihr knurrte der Magen. Das Essen, das für sie bestimmt gewesen war, hatte Hema auf ihren Wunsch dem Schneider gebracht, sie hatte wieder einmal die Ausrede benutzt »Ich habe keinen Appetit«. Ihre Hand glitt zum Magen. Sie fühlte ihre Rippen. Ich muß morgen etwas essen. Sie zog das Holzkästchen zu sich hin. Daß es leer war, hatte sie vergessen.
1959
Bombay
Chandan Chandran hockt im Schneidersitz auf dem Boden. Um ihn herum stehen Flaschen, Schachteln und Tüten. Madan sitzt ihm gegenüber und atmet den betäubenden Geruch ein. Es ist das erste Mal, daß der Meister ihn in die kleine Dachkammer mitnimmt. Seit er vor zwei Jahren in einer Ecke der Weberei einen eigenen kleinen Teppich bekommen hat, auf dem er sitzt, wenn er die fertigen Stoffe und Schals umsäumt, ist Madan glücklich. Daß er dreizehn ist, weiß er nicht, Zahlen und Jahreszahlen haben für ihn keine Bedeutung. Er fühlt sich als Mann, seit er vor einer Woche schwarze Haare neben seinem Glied entdeckt hat. Seine Schultern sind inzwischen fast so breit wie die der Männer an den Maschinen, die ihn alle Mukka nennen, wie sein Freund Subhash, der Schmierer, mit dem er zusammen unter der Überdeckung auf dem
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