Warten auf den Monsun
Flachdach schläft. Herr Chandran hat ihn nie mit einem Namen angeredet.
Manchmal, es kann vor- oder nachmittags sein, oder auch kurz vor Feierabend, setzt sich Meister Chandran neben ihn, nimmt den Lappen, auf dem Madan seine Nadeln aufbewahrt, und überprüft sie. Wenn eine Nadel stumpf oder rostig ist, zieht er sie heraus und murmelt, gutes Werkzeug sei die halbe Arbeit. Dann nimmt er eine von den guten Nadeln, fädelt einen roten Faden ein und stichelt damit in dem Lappen. So bringt er Madan den normalen Saumstich bei, den versteckten Saumstich, den Muschelstich, den Hexenstich und den Festonstich, und Madan lernt, daß zu jedem Gewebe ein anderer Stich gehört. Ohne ein Wort zu sagen gibt er Madan den Lappen zurück und schaut, ob der den Stich nachmachen kann. Wenn Madan es schafft, sagt er ihm, wie der Stich heißt. Wenn er es nicht schafft, muß er seinen Stich und den des Schneiders aufdröseln und warten, bis Chandan Chandran sich irgendwann wieder zu ihm setzt, um ihm den Stich noch einmal zu zeigen.
Daß er heute in die Dachkammer mitkommen durfte, ist eine große Ehre. Seit Subhash ihm den Raum gezeigt hatte, war er nicht mehr dort. Eines Tages, als er hochgeklettert war, weil er einfach etwas Schönes riechen wollte, hing ein Vorhängeschloß an der Luke, und niemand hatte ihm gesagt, wer den Schlüssel hatte.
»Die hier stärken die Ausdauer«, sagt Chandan Chandran mit seiner schönen, tiefen Stimme und nimmt eine Handvoll trockener Orangenblüten aus einer Flasche.
Madan hält die Hand auf, und Chandan Chandran legt die Blüten hinein. Madan steckt die Nase hinein, aber der Duft ist weniger stark als erwartet.
»Man muß sie erst zermahlen und einweichen, und dann taucht man den Stoff hinein.« Chandan Chandran zerbröselt ein paar andere Blüten und hält sie Madan vor die Nase. »Calendula, die Bauern nennen sie Ringelblume oder Goldblume.« Er nimmt ein großes Vorratsglas von dem Regalbrett hinter ihm und dreht es auf. » Jasminum oder Jasmin steht für Reinheit und Wahrhaftigkeit. Wenn du das benutzt, mußt du die Blätter zusammen mit dem Stoff kochen. Reinheit ist eine große Kraft, die oft unterschätzt wird, sei damit sehr vorsichtig.«
Madan begreift nicht, warum er mit einer Handvoll süß duftender Blüten vorsichtig sein soll. Nach jedem Monsun riecht die ganze Gegend nach Jasmin, und alle sind glücklich. Männer, die in den heißen Monaten griesgrämig geworden sind, lachen wieder und bringen Schalen voller Blütenblätter in den Tempel. Kinder, die ständig gequengelt haben, weil sie wegen der Hitze nicht schlafen konnten, toben wie junge Hunde herum, und die Frauen, die ihre launenhaften Männer und ihre nervenden Kinder stillschweigend ertragen haben, blühen bei den ersten Regentropfen auf wie Blüten an einem Busch.
Chandan Chandran schüttet aus einer Tüte kurze, braune Dornen auf seine Hand. »Vom Kaktus. Sie fördern den Reichtum.«
Geld ist für Madan ein genauso unbekannter Begriff wie eine Jahreszahl. Beim Wort »Reichtum« denkt er an Körbe voller Äpfel, Birnen oder Bananen. Zu Chandan Chandrans Bemerkung, daß diese Stacheln mit Reichtum zu tun haben, nickt er aber. Das Essen im Gefängnis bekam er ja auch nur, nachdem Ibrahim ihm einen Schlag verpaßt hatte oder er auf dem Klosetteimer hatte sitzen müssen, um mit seinem Körper den Gestank zurückzuhalten, damit der Mörder unbehelligt essen konnte.
Sein Chef nimmt eine Zitrone aus seiner Jackentasche. »Die Citrus limonia spornt zur Keuschheit an.«
Auch das Wort »Keuschheit« sagt Madan nichts, aber der saure Geschmack einer Zitrone und das Gesicht des Webers helfen ihm auf die Sprünge. Er erinnert sich an Bruder Franciscus, wie er vor dem hölzernen Mann am Kreuz gebetet hat, und an den essigartigen Geruch im Waschraum, wo der Mönch auf die Knie fiel.
Der Mann mit dem Pferdeschwanz steht auf und kramt zwischen den Flaschen und Tüten, bis er findet, was er sucht. »Das ist von der Passiflora oder Passionsblume«, sagt er mit ruhiger Stimme, und in seiner Hand liegen Staubfäden, weiß mit blauviolett, »die kann Stille erzeugen.«
Unter Stille kann Madan sich etwas vorstellen. Nicht die Stille in seinem Kopf, dort redet er ununterbrochen, sondern das Verlangen danach, Wörter auszusprechen, einen Satz zu bilden, eine Geschichte zu erzählen. Einmal, als Subhash und der Mond schliefen und die Stadt ringsum in so tiefer Ruhe dalag, daß sich sogar die Ratten in ihre Löcher zurückgezogen hatten, war
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