Warten auf den Monsun
den scharfen Wind. Den warmen und den kalten Wind. Den Morgen- und den Nachtwind. Den Flüster- und den Sausewind. Den Sommer- und den Winterwind. Den Nord-, West-, Ost- und Südwind. Am schönsten fand sie immer den Traumwind. Sie blickte auf die Figur von Ganesh, dem Gott mit dem Elefantenkopf, die an ihrem Fußende stand und die sie vor Jahren, als sie sich schrecklich einsam fühlte, gekauft hatte. Sie hatte nicht verstanden, was er mit dem Traumwind gemeint hatte, bis zu diesem Moment. Sie spürte, wie in ihren Füßen ganz sanft eine Brise aufkam. Es fing bei den Zehen an, die sich noch immer zur Tanzmusik bewegten, und auf einmal wirbelte in den Beinen etwas hoch, dann am Becken entlang, über die Wirbelsäule, durch den Hals. Sie öffnete den Mund und merkte, wie der Wind ausströmte. Einen Moment war sie verwirrt und dachte, es sei der imaginäre Rauch, den sie auspustete, aber es war ein anderer Luftstrom, er brachte Kühlung. Sie legte die Zigarette wieder in das Holzkästchen. Ein zweiter Lufthauch entwich ihrem Mund. Charlotte setzte sich aufrecht hin. Sie verstand nicht, was da geschah. Wieder öffnete sie den Mund, diesmal weiter. Sie hielt die Hände davor und spürte, wie die frische Luft über ihre Haut fuhr. Sie bekam eine Gänsehaut. Sie spitzte die Lippen und blies den kühlen Wind zu ihren Füßen hin. Der Nachrichtensprecher unterbrach die Musik.
Sie schlug das Moskitonetz zur Seite und stand auf. Der Mann im Radio kündigte an, daß es morgen wieder zweiundvierzig Grad werden würden. Sie seufzte, und nochmals kam aus ihrem Mund ein kühler Luftstrom. Barfuß verließ sie das Zimmer.
In der Hand hielt sie die brennende Kerze und einen Schlüsselbund, der leise klirrte. Sie ging an der großen, tickenden Standuhr vorbei zur Tür des Kinderzimmers und horchte. Es war still. Auf Zehenspitzen ging sie zur Treppe. Die Stufen knarrten, und das Knarren mischte sich mit dem Gesang der Grillen im Garten. In der großen Eingangshalle hing der gigantische Kronleuchter, in den Hunderte Kerzen paßten, aber es war Jahre her, seit er zum letzten Mal gebrannt hatte. Sie öffnete die Tür zum Klavierzimmer. Hier standen die Fenster nicht offen. Da das Zimmer nicht mehr benutzt wurde, war es besser, wenn sie ständig geschlossen blieben. Mit einem der Schlüssel an ihrem Bund schloß sie die Schranktür auf. Die kühle Brise, die sie noch die Treppe hinunter begleitet hatte, war verschwunden. Schweiß überzog wieder ihre Haut. In die Halle zurückzugehen und den Traumwind von neuem wachzurufen, kam ihr nicht in den Sinn. Das Kerzenlicht glitt über die Regalbretter. Aufgeschreckte Motten, schwarze Käfer und Hunderte von Ameisen bevölkerten den Schrank. Charlotte ließ die Tiere in Ruhe, sie waren sowieso überall, und suchte weiter.
Auf dem obersten Bord lag ein Stapel Alben, zum Schutz gegen die ungebetenen Gäste in Plastikhüllen verpackt. Ihre Finger strichen über die Rücken, und sie versuchte, die im Kerzenlicht schwer zu entziffernden Jahreszahlen zu lesen. Sie zog das Buch für die Jahre 1936-1939 hervor und drehte sich zum Tisch um, aber das Möbelstück, das jahrelang unverrückbar vor dem Fenster gestanden hatte, war nicht mehr da, ebenso das Sofa, das ihr Vater einst in London bestellt hatte. Mit einer schnellen Handbewegung fegte sie Staub vom Fußboden weg, kniete sich hin und legte das Album auf den Boden. Sie zog das Buch aus der Plastikhülle, der Umschlag war zerschlissen, der violette Samt war braun und glatt geworden. Sie schlug das Album auf.
Ihre Mutter in einem langen Kleid und mit einem Diadem im Haar neben einer anderen Frau im Abendkleid. Unter dem Foto stand: »Weihnachten im Club«. Sie blätterte um. Ihr Vater mit seinem Gewehr, in seiner Uniform, einen Fuß auf einem toten Hirsch, hinter ihm zwei junge Burschen in Longhi s. »Unser Held«, stand in derselben Handschrift darunter. Charlotte erinnerte sich an den blonden Offizier aus der Kompanie ihres Vaters, der ihr irgendwann, als er zu viele Burra-peg intus hatte und ihr einen Heiratsantrag machen wollte, eröffnet hatte, nicht ihr Vater, sondern die beiden indischen Jungs hätten den Hirsch zur Strecke gebracht. Mit bloßen Händen, hatte er grinsend hinzugefügt. Auf den nächsten Seiten immer wieder Fotos von ihrer Mutter im Abendkleid oder auf dem Tennisplatz, manchmal ihr Vater mit seinen Männern im Offizierskasino oder auf der Jagd. Zwei Fotos fand sie in dem Album, auf denen ihr Bruder Donald war. Eines zusammen
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