Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
Buch der von Gott in der Wahrheit gehaltenen Kirche. Aber diese Einheitlichkeit hat in einer bestimmten kirchenpolitischen Konstellation eine dominierende Gruppe erst festgesetzt. Wer sie heute als maßgebend auszeichnet, bedient heutiges Gruppeninteresse.
Vor etwa 30 Jahren haben Theologen für diese Art der Ablehnung des historischen Denkens ein Fremdwort erfunden; sie sprechen von der ‹kanonischen Exegese›. Was sie für den Gesamtsinn des ‹Kanon› halten, nehmen sie als Auslegeschlüssel. Sie tragen zuweilen vor, die ‹kanonische› Bibelerklärung sei die Ergänzung oder die Überhöhung der historisch-kritischen Lektüre. Aber sie ist ihr gegen sie gerichteter Gebrauch . Sie löst die Probleme nicht, die sie zu beseitigen verspricht. Denn was ist der Gesamtsinn der Bibel? Die Kirchen haben jahrhundertelang versucht, eine solche Gesamtauslegung vorzutragen. Aber welche Kirche soll uns heute über die Gesamtaussage der Bibel belehren? Es gibt diese einheitliche Kirche nicht mehr; sie hat sich gerade darüber zerstritten, welches die Grundwahrheit der Schrift sei. Wenn heute ein konservativer Theologe die Glaubensregel der mittelalterlichen Kirche in Anspruch nimmt, wenn er mit dem vielsinnigen Charakter der Sprache argumentiert und eine ‹spirituelle› Bibeldeutung versucht, dann nimmt auch er sich subjektiv eine Auslegungsart aus vielen heraus. Auch er erlaubt sich eine nur subjektive Perspektive, die andere Bibelleser nicht teilen. Deutet er das Alte Testament nach den christologischen Dogmen der alten Kirche, suchen wir die alttestamentliche Weissagung in ihrem geschichtlichen Kontext auf und zeigen die Differenzen zwischen dem Neuen Testament und dem Alten , zwischen den Dogmen des 5. Jahrhunderts und den Texten des Urchristentums. Die ‹Kirche›, in deren Schatten er die Bibel lesen will, existiert nicht mehr. Setzt sich jemand darüber hinweg, ist das ein individualistischer Kraftakt, mit dem heute ein Einzelner sich die Autorität der ‹Tradition› anmaßt. Die kirchlichen Entwicklungen der Neuzeit und insbesondere die historisch-kritische Methode haben die Einheitlichkeit zersetzt, die er gegen das Chaos der Meinungen anruft. Sein Ruf ist nur ein Teil des bestehenden Chaos. Die ‹Kirche›, die dem Kanon Autorität verliehen und einzelne altchristliche Texte zum Gotteswort erhoben und andere ausgeschieden hat, ist heute eine partikuläre Vereinigung. Sie hat das Privileg der Schriftauslegung verloren, das sie immer noch beansprucht. Wer seine Auslegungsregel kraft Willensentschluß mit dem Kanon identifiziert, hat sich nur ein antimodernes Kostüm aus dem Vorrat der großen Kleidersammlung ‹herausgenommen›.
Ich illustriere das historisch-kritische Vorgehen am Beispiel der Wunder. Die historisch-kritische Bibellektüre kann nicht beweisen, daß es keine Wunder gab. Der kritische Forscher sieht nicht zuerst auf die Lehre der Dogmatiker über Wunder; er stand nie einem Wunder direkt gegenüber; er kennt nur Wunder erzählungen. Erzählen diese von der Auferweckung eines schon verwesenden Toten wie Lazarus, dann analysiert er diesen Bericht: Wo steht er? Wie wird er erzählt? Wie nimmt er sich in seiner Umgebung aus? Was erzählten damals Zeitgenossen über Tote, die ins Leben zurückkehrten? Er stellt fest, allein das Johannesevangelium berichte die spektakuläre Wundertat mit dem schon verwesenden Lazarus, Johannes , 11,1–44. Die meisten Forscher datieren heute das Johannesevangelium auf die Zeit um 100 nach Christus; der Bericht läge dann rund 70 Jahre später als das Ereignis. Aber auch 30, 20 oder zwei Jahre genügen zur Legendenbildung. Um eine solche handelt es sich, auch wenn wir über keine exakte Chronologie verfügen. Der historisch-kritische Leser sucht die genaue Datierung, aber wenn er keine findet, behält er die Frage nach ihr im Sinn und untersucht zunächst einmal andere Wundererzählungen. Denn er weiß von anderen antiken Texten, z.B. von Platon, daß wir oft den genauen inhaltlichen Sinn einer Passage erfolgreicher suchen als ihre genaue Zeitstelle. Und dann findet er: Der Prophet Elias soll sich dreimal auf die Leiche eines Kindes geworfen und es so zum Leben erweckt haben. [4] Totenerweckungen kommen in der Bibel öfter vor, sie waren nicht so ungewöhnlich wie wir heute annehmen; sie waren ein beliebter Erzählstoff. Markus berichtet im achten Kapitel, Jesus habe die Jünger einmal gefragt, was die Leute so über ihn sagen. Sie antworteten, die einen
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