Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
Vorgehensweise schleppte einen verzehrenden Bazillus ein. Katholische Autoritäten, allen voran der kämpferische und beredte Bischof Bossuet, verstanden das richtig und ließen das Buch verbrennen. Denn mit Richard Simon setzte ein Bibelleser neuer Art nicht mehr das Dogma als Richtschnur an den Anfang und suchte die dazu passenden Stellen; er löste Aussagen nicht mehr ab von der Textumgebung, sondern überprüfte Wortlaut, Überlieferung und Übersetzung. Wenn es um einen Fragepunkt ging, zum Beispiel um die Bekehrung des Paulus, dann erwog er, daß er den Vorgang selbst nicht prüfen, sondern nur in Texten studieren konnte, nämlich in den Berichten der Paulusbriefe und der Apostelgeschichte. Wenn deren Verfasser nicht mehr feststand, wenn er zeitlich und örtlich weiter weg war vom berichteten Geschehen als bisher vermutet, dann verlor der Bericht an Autorität, mit der er bisher den Christen versichert hatte, die berichteten Ereignisse hätten tatsächlich stattgefunden. Und wenn dies bei den Büchern des Moses der Fall war – Bücher mit so wichtigen Inhalten wie Welterschaffung und Sündenfall, wie Bundesschluß Gottes mit Israel und Empfang der Zehn Gebote –, dann konnte es auch bei anderen autoritativen Texten der Fall sein.
Das historisch-kritische Verfahren begann die Arbeit nicht mehr mit dem dogmatisch fixierten Ereignis, sondern mit einem Text darüber, und untersuchte ihn, wie man andere literarische Produkte erforscht; es fragte nach Ort und Zeit, nach Sprachform und Textüberlieferung, nach Vorläufern und Gegnern, nach Benutzern und Nachahmern. Es rekonstruierte den Kontext für jedes Buch, manchmal auch nur für Teile eines Buches, das nachträglich zusammengestückt war. Lorenzo Valla untersuchte zum Beispiel den Wortschatz des angeblichen Dionysius vom Areopag und stellte fest, daß er Wörter und Wendungen benutzte, die es im ersten Jahrhundert noch nicht gab; außerdem erkannte er, kein Schriftsteller der Zeit vor 500 zitiere den großen Theologen und Paulusschüler. Er belegte mit Einzelnachweisen die Abhängigkeit von dem heidnischen Philosophen Proklos, der 485 in Athen gestorben war.
Dieses Verfahren auf Koran und Bibel anzuwenden, stieß bei Muslimen, Katholiken wie Protestanten auf Widerstand, die lehrten, Gott habe jeden Satz des Koran selbst geschrieben und jeden Satz der Bibel inspiriert; das Buch sei heilig und irrtumslos. Ihnen sprach aus jeder biblischen Wendung die ewige Wahrheit Gottes. Wenn die Bibel ein Ereignis zweimal mit kleinen Abweichungen erzählte, dann sahen sie zwei verschiedene Ereignisse, nicht Varianten einer Erzählung. Der Heilige Geist, nahmen sie an, mußte doch wissen, ob Jesus bei der Brotvermehrung fünf oder sieben Brote verwandelt hatte. Beides wird erzählt. Also hatte Jesus zweimal Brot vermehrt.
Nun waren schon antiken Christen Abweichungen im Bibeltext aufgefallen. Augustin hatte ein Buch geschrieben, De consensu evangelistarum , in dem er die Harmonie der Differenzen bewies. Er sah die Autorität der Zeugen bedroht, wenn sie nicht mit einer Zunge sprachen. Seine Argumentation illustriert als ihr Gegenteil die historisch-kritische Methode. Er ging von der ewigen Wahrheit Gottes aus und von dessen Anwesenheit in der Kirche, die über Bibelauslegungen wache.
Augustin rekonstruierte nicht wie die historisch-kritische Methode die kulturelle Umgebung einer Bibelstelle. Dazu fehlte es ihm allein schon an Sprachkenntnissen. Erasmus hat über ihn gespottet, Augustin habe ja geglaubt, er komme bei der Bibelauslegung mit einer Sprache aus; er konnte kein Hebräisch und kaum Griechisch. An der kulturell-historischen Einordnung des Bibeltextes hatte er kein Interesse; die historisch-kritische Methode hingegen erforscht die zeitliche und intellektuelle Konstellation, die einen Text hervorgebracht und überliefert hat. Sie versucht, den ältesten Text zu rekonstruieren. Sie registriert die Veränderungen der historischen Stufen und sucht sie zu erklären. Wo es möglich ist, sucht sie Quellen des Textes, Vorlagen oder zeitgenössische Kritiken. Einige biblische Schriften sind Sammlungen älterer Erzählungen; die historisch-kritische Forschung unterscheidet in ihnen Schichten und Herkünfte, Kombinationen und Rücksichten auf Empfängergruppen. Sie überprüft die Einheitlichkeit der Endredaktion; sie setzt diese nicht als gesichert voraus. Solange Gott als der direkte Urheber der Schriften galt, war ihre Wahrheit und Einheitlichkeit gesichert; er sprach aus
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