Warum Mathematik glücklich macht: 151 verblüffende Geschichten (German Edition)
Masse entfalten. Doch auch die einzelne Ameise ist talentierter, als man denkt. Und wenn man ihre Fähigkeiten untersucht, kann man dabei mitten in der Mathematik landen.
Die Wüstenameise Cataglyphis fortis hat ein eingebautes ausgeklügeltes Navigationssystem, mit dem sie punktgenau zu ihrem Nest zurückfinden kann. Es ist die tierische Seinsform vom modernen GPS. Wenn eine dieser Ameisen sich auf Nahrungssuche begibt, entfernt sie sich auf einem windungsreichen und mit abrupten Richtungsänderungen gespickten, erratisch anmutenden Beutesuchlauf oft bis zu 500 m über strukturloses Wüstenterrain von ihrem heimischen Nest. Wenn sich die Ameise irgendwann dazu entschließt umzukehren, läuft sie geradlinig auf kürzestem Wege zum Ausgangspunkt zurück und verfehlt ihr Nest nur um wenige Zentimeter. Jetzt denken Sie, ich hätte das erfunden oder Sie hätten sich verlesen? Nein! Diese Fähigkeit ist außerordentlich erstaunlich, besonders wenn man ihr den Sachverhalt entgegenhält, dass es sich bei Ameisen um wirbellose Insekten mit höchstens einigen Hunderttausend Gehirnzellen in einem Gehirn von 0,1mg Gewicht handelt.
Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die Ameisen navigieren, indem sie ständig die einzelnen Vektoren ihrer Bewegung messen und den jeweils nächsten nach dem Prinzip der Vektorsummation den früheren hinzuaddieren, wobei sie immer den resultierenden Heim-Vektor, der sie direkt zu ihrem Nest zurückführt, im Gedächtnis behalten. Was die Winkelkomponente der Navigation betrifft, so orientieren sich die Ameisen an der Sonne. Das Licht der Sonne wird auf seinem Weg durch unsere Atmosphäre polarisiert: Wenn es auf der Erde auftrifft, schwingt es bevorzugt in einer bestimmten Richtung. Mit spezialisierten Sehzellen am oberen Rand ihrer Augen können Ameisen die Winkelabweichung ihres eingeschlagenen Weges von der Polarisierungsrichtung des Sonnenlichtes ermitteln. Die so genannten Kompassneuronen im Ameisenhirn verrechnen diese Information dann.
Abbildung 82: Beutesuche einer Ameise und geradlinige Rückkehr zum Nest •
Neben der Richtung können die Ameisen aber auch die Länge einer gelaufenen Strecke messen. Dies bewerkstelligen sie mit Hilfe einer Wegintegration durch «Zählung» der Anzahl ihrer Schritte mit einem körpereigenen Schrittzähler. Wissenschaftler der Universitäten Ulm und Zürich haben dies mit einem genialen Experiment nachgewiesen. Sie klebten einigen Ameisen Schweineborsten an die Beine, um deren Länge und so auch deren Schrittlänge zu vergrößern. Bei anderen Ameisen wurden die Beine gekürzt. Bevor diese Veränderungen vorgenommen wurden, mussten die Tiere von ihrem Nest zu einer 10 m entfernt liegenden Futterquelle laufen. Auf dem Rückweg zum Nest schossen anschließend die Ameisen mit den durch Stelzen verlängerten Beinen, die jetzt größere Schritte machten, etwa fünf Meter über das Ziel hinaus, bevor sie ihr Nest suchten. Die beingekürzten Ameisen dagegen hielten bereits etwa 5 Meter vor dem Ziel in Erwartung ihres Nestes Ausschau danach. In einem weiteren Versuch mussten die Tiere mit den veränderten Beinlängen vom Nest zur Futterquelle und zurück laufen. In diesem Fall schätzten sie den Rückweg wie gewohnt fast richtig ein.
Die Ameisen verfügen in ihrem Cockpit über mehr als einen schlichten Kompass und Entfernungsmesser. Sie gehören zu den beeindruckendsten Navigationskünstlern in der gesamten Tierwelt. Umgedeutet auf unsere menschlichen Maßstäbe ließe sich diese außerordentliche Geschicklichkeit der Ameisen bei präziser Richtungsfindung in strukturlosem Gelände nur durch mathematisch hochkomplexe Navigationsgeräte wie Globale Positionierungs-Systeme realisieren. Und es ist nur eine der Überraschungen, die Ameisen für uns in petto haben. Der Name ihrer Spezies findet sich über einigen kognitiv-vorbildlichen Glanzleistungen. Daher rührt ihr großer Erfolg in allen Regionen unseres Planeten. Wer Aufgaben besser löst und Schwierigkeiten schneller meistert als andere, wird seinen Erfolg auf Dauer kaum verhindern können.
Das Ameisen-GPS ist nur ein Beispiel von vielen: Wenn man wie wir mit der Mathematik-Brille im Tierreich unterwegs ist, trifft man auf Schritt und Tritt auf das Wunderbare.
124. Meine Ameise ist Situationist
Wissenschaftler von der Universität Bath in England haben herausgefunden, dass auch Tiere den Buffon’schen Nadelalgorithmus verwenden, den wir in Miniatur 104 erwähnt haben. Eamonn Mallon und Nigel
Weitere Kostenlose Bücher