Warum Mathematik glücklich macht: 151 verblüffende Geschichten (German Edition)
Mustermacher. Die Mathematiker haben in der Tat ein Verfahren gefunden, das dies alles zu leisten vermag, den Turing-Mechanismus. Sein Grundgedanke ist, dass zwei biochemische Stoffe durch den Körper des Tierembryos diffundieren, sich also aufgrund der thermischen Eigenbewegung ihrer Moleküle ausbreiten. Er basiert auf einem Wechselspiel zwischen Diffusion und Kinetik und erklärt, wie räumliche Muster in chemischen Konzentrationen entstehen können. Der Keim der Fellzeichnung wird nämlich bekanntermaßen schon in der embryonalen Phase gelegt. Einer der beiden Stoffe ist ein Aktivator, der die Bildung von Melanin anregt, jenes Pigments, das ab einer bestimmten Aktivatorkonzentration gebildet wird und für dunkles Fell sorgt.
Der andere Stoff ist ein Inhibitor, der die Produktion von Melanin verhindert. Tritt er an einer Stelle in Erscheinung, bleibt das Fell an dieser Stelle hell. Die Konzentration der an einem Haarfollikel des Fells befindlichen Stoffe entscheidet also darüber, ob dort helles oder dunkles Fell entsteht. Der Aktivator ist dabei stärker fördernd, als der Inhibitor hemmend ist: Damit eine Stelle hell wird, muss an ihr mindestens einige Male so viel Inhibitor zu finden sein wie Aktivator, andernfalls wird die Stelle dunkel. Der Inhibitor dagegen, obwohl schwächer, diffundiert mit größerer Geschwindigkeit durch den Körper als der Aktivator. Da dies so ist, verringert sich in einem gegebenen Bereich der Inhibitor schneller, und eine Insel mit höherer Konzentration des Aktivators kann entstehen: Phänomenologisch wird es ein Flecken oder ein Streifen.
Man kann das Ausbreitungsverhalten der Stoffe und ihre Interaktion durch 2 gekoppelte Gleichungen darstellen, eine für den Aktivator, die andere für den Inhibitor. Mathematisch etwas präziser ausgedrückt, handelt es sich um partielle Differentialgleichungen. Man spricht von Reaktions-Diffusions-Gleichungen. Eine wichtige Stellschraube in den Gleichungen ist eine Zahl, die von Größe und Gestalt der zu bemusternden Fellfläche abhängt. Variiert man diesen Parameter in den Differentialgleichungen, so ergeben sich je nach Fall Flecken, Streifen oder Einfarbigkeit als optische Erscheinungsformen ihrer Lösungen.
Für Mathematiker ist dies nicht weiter verblüffend. Ihnen ist seit langem und in vielen Spielformen bekannt, wie sehr die Lösungen von Differentialgleichungen von den Randbedingungen abhängen. Ein anderes, aber in vieler Hinsicht ähnliches Beispiel bilden die Schwingungen diverser Trommeln. Mit denselben Materialien, nur durch Veränderung von Größe und Geometrie entstehen ganz verschiedene Tonhöhen und Klangfarben.
Auch bei Tieren hängt das konkrete Färbungsmuster entscheidend von Größe und Geometrie ihres Fells ab. Ein anderer Aspekt kommt aber noch hinzu: Wichtig ist zudem das Stadium der Embryonalentwicklung der Tiere, in welcher der Aktivator-Inhibitor-Prozess in Gang gesetzt wird. Simulationen der angesprochenen Reaktions-Diffusions-Gleichungen zeigen, dass kleine Tiere mit kurzen Tragzeiten einheitlich gefärbt sein sollten. Und in der Tat sind sie das in aller Regel auch. Die Maus ist dafür ein Paradebeispiel. Ist bei Aktivierung des Prozesses der Embryo aber bereits etwas größer, wird das ausgewachsene Tier teils schwarz, teils weiß sein. So verhält es sich bei der Walliser Ziege. Dann nimmt die Komplexität der Muster mit zunehmender Fellfläche zunächst zu. Dalmatiner, Raubkatzen und Kühe haben meist viele Flecken.
Bei den Schwänzen von Tieren wie etwa dem Gepard gehen die Flecken in Streifen über, was man durch die Verringerung der Fläche erklären kann. Wenn in der embryonalen Phase der Musterbildungsprozess einsetzt, gleicht der Schwanz des Geparden ungefähr einem Kegelstumpf, der sich zur Schwanzspitze hin verjüngt. Die Lösungen der Reaktions-Diffusions-Gleichungen sind in größeren Gebieten meist Wellen. Dies führt zum Wechsel von Bändern stärkerer und schwächerer Aktivatorkonzentration und somit zum Wechsel von dunklen und hellen Streifen. In kleinen Gebieten kann sich in Querrichtung keine ganze Welle ausbilden, im Gegensatz zum Gebiet des dickeren Schwanzansatzes. In Längsrichtung hat somit das Schwanzmuster den typischen Schwarz-Weiß-Wechsel, in Querrichtung allerdings wegen dessen Dicke nur am Anfang des Schwanzes.
Weiterhin sind auch die Flecken der Tiere je nach Fellgröße und embryonaler Aktivierungsphase deutlich unterschiedlich. Zum Beispiel wird bei einer Giraffe der
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