Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
verschwand, seine Beschwerden besonders groß waren. Er war deshalb sogar krankgeschrieben.
Auslöser für den Druck, die Beschwerden und letztlich die Tat sind meist Stressoren, also belastende Ereignisse. Als Grund für das Verbrechen an Katharina nennt der Mann Probleme am Arbeitsplatz, Streit mit seiner Freundin und eine anstehende große Renovierung seiner Wohnung. Sie hätten dazu geführt, dass er »austickte«. Diese Probleme waren zwei Monate zuvor sogar noch akuter. Er hatte damals auch eine Prostituierte besucht – eine Türkin. Und immer, wenn er Stress hatte, neigte er zum »Kreisen«, zum ziellosen Durch-die-Gegend-Fahren. Die Indizien sind aus psychologischer Sicht durchaus stark, sage ich den Ermittlern.
Auch ihnen gegenüber macht er sich immer verdächtiger. Er hat für den Tag von Hilals Verschwinden kein Alibi, und seine Freundin kam erst spät nach Hause, so dass Zeit geblieben wäre, um sich zu beruhigen und Spuren zu verwischen. Und noch alarmierter werden wir, als wir versuchen, mit ihm das Verbrechen an Katharina zu rekonstruieren. Ein Team fährt mit ihm die Strecke ab, erst zum Schwimmbad, an dem er Katharina aufgriff, und dann weiter über die Autobahn. Er schildert akribisch die Details seiner Vorgehensweise. Er zeigt den genauen Fahrtweg und führt ohne Umweg zum Baum, an dem er das Kind aussetzte. Alles weiß er noch. Nur eines will ihm einfach nicht mehr einfallen: der Ort, an dem er das Kind missbrauchte. Er wisse es nicht so genau, er sei aufgeregt gewesen, könne sich nicht erinnern. Eine Kiesgrube sei in der Nähe gewesen. Eine Kiesgrube? In dieser Gegend gibt es keine Kiesgrube.
Erinnert er sich wirklich nicht? Oder will er den Missbrauchsort nicht nennen? Warum?
Ich habe eine mögliche Erklärung, die ihn nicht unbedingt entlastet. Gewalttäter nutzen für ihre Taten gerne Plätze, an denen sie zuvor schon eine Tat begangen haben: Sie bleiben ihrem »Erfolgsmodell« treu. Ist das der Grund für seine Ausreden? Weil er an dem Ort, an dem er sich an Katharina verging, auch Hilal missbrauchte? Weil dort Spuren zu finden wären? Vielleicht sogar ihre Leiche liegt?
Wir stoßen auf eine Zeugenaussage. Ein Mann sagt, er habe in der Nähe von Hilals Wohnhaus einen grünen VW -Golf gesehen, als sie verschwand. Der Verdächtige fährt einen grünen VW -Golf. Es stellt sich auch heraus, dass er im August 1993 Verwandte in Schleswig-Holstein besuchte. Genau in dieser Zeit verschwand dort ein elfjähriges Mädchen spurlos. Ein Serientäter? Der Mann streitet es ab. Er erzählt alle Details seiner Tat, aber weiterhin nichts zum Missbrauchsort und weiterhin nichts zu Hilal. Weder sagt er etwas, das ihn entlasten könnte, noch etwas, das sein fehlendes Alibi erklärt. Es ist, als wolle er die Ermittler abblitzen lassen.
Macht gewinnt man, indem man andere ohnmächtig macht. Dieses Bedürfnis kann ein wesentliches Tatmotiv sein: die vollkommene Kontrolle über einen Menschen spüren zu wollen. Darum sind auch so häufig Kinder die Opfer von Sexualdelikten. Es liegt nicht immer daran, dass die Täter pädophil sind, sondern daran, dass Kinder am leichtesten unter Kontrolle zu bringen sind. Aus demselben Grund werden auch ältere Frauen vergewaltigt. Und aus demselben Grund kann man auch Freude daran haben, ein Geheimnis nicht preiszugeben. Wie mächtig man doch ist, wenn alle eine Information brauchen, die man ganz für sich behält.
Wir starten mehrere Anläufe, ermitteln im Umfeld des Mannes, vernehmen ihn wieder und wieder. Er redet viel, aber schweigt weiter an den Punkten, die uns Klarheit bringen würden. Keine Beweise, weder entlastende noch belastende.
Der Mann wird wegen des Missbrauchs an Katharina angeklagt. Hilals Mutter verfolgt den Prozess im Gericht. Sie sagt später, dass sie ihm in die Augen sehen wollte. Aber er dreht sich kein einziges Mal zu ihr um. Hilals älterer Bruder sagt vor Freunden, dass er sich »diesen Mörder« packen will. Müssen wir uns Sorgen machen? Es ist ein typischer Vorgang, dass sich Trauer und Ohnmacht in Aggression verwandeln. Aber Polizeibeamte führen ein Gespräch mit ihm, in dem er sich einsichtig zeigt.
Der Mann wird zu sieben Jahren Haft verurteilt. Wir wissen bis heute nicht, ob dieser Mann eine Antwort auf unsere Fragen und die der Familie E. hat. Es fällt schwer, zu glauben, dass er sich an den Missbrauchsort nicht mehr erinnert. Aber wir können ihn nicht zum Reden zwingen. Wir können ihn nur weiter beobachten.
Die Familie E. muss
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