Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
Hilals Verschwinden ein Alibi hatte. Er arbeitete als Gärtner. Sein Bruder, der auch sein Chef war, gab an, dass Lehmann in einem Haus in einem Vorort Hamburgs gearbeitet habe. Doch als nun nach fünf Jahren die Akte noch mal geöffnet wird, stellt sich heraus, dass niemand Lehmanns angebliches Alibi bestätigen konnte. Die Spur ist wieder heiß.
Bevor die Ermittler der BAO »Morgenland« die Vernehmungen wieder aufnehmen, bitten sie mich um psychologischen Rat: Wie können sie Lehmann zu einem umfassenden Geständnis bewegen und dazu, dass er den Ablageort der Leiche nennt, sofern er der Täter ist?
Ich studiere die Unterlagen. Pädophilie und eine kombinierte Persönlichkeitsstörung: Borderline-Störung mit dissozialen, ängstlich-vermeidenden und abhängigen Anteilen. Es ist eine ziemlich komplexe Mischung. Sogenannte Borderliner haben Schwierigkeiten, ihre Emotionen einzuordnen, sie werden oft regelrecht von ihnen überwältigt und vollziehen impulsive Handlungen. Sie können schnell in Wut geraten oder passiv aggressiv werden, also in anklagendes Leiden verfallen, aber auch Zustände innerer Leere spüren. Dissoziale kennen weder Verantwortungs- noch Schuldgefühle, sie haben keine Skrupel, ethische Regeln zu verletzen. Ängstlich-Vermeidende wiederum haben ein sehr schwaches Selbstwertgefühl, leiden unter Versagensängsten, sind unsicher im Umgang mit Mitmenschen und scheuen Herausforderungen. Dependente fühlen sich abhängig von der Unterstützung durch andere und tun alles, um diese Unterstützung zu bekommen. In Lehmanns Persönlichkeit sind diese Störungsbilder gemischt, zudem hat er einen niedrigen Intelligenzquotienten von unter 90. Man kann sagen: Dieser facettenreiche Mann ist nur schwer zu begreifen.
Aber er liefert mir ein paar Ansatzpunkte. Ein Geständnis erscheint sehr wahrscheinlich, denn Lehmann kann schwer verbergen, wenn ihn etwas bewegt. Möglicherweise sind dafür mehrere Vernehmungen nötig, um eine Beziehung herzustellen. Zu Beginn sollte leichter emotionaler Druck aufgebaut werden, vielleicht über seine Familie. Lehmann ist 31 Jahre und lebte bis zu seiner Verhaftung fünf Jahre zuvor noch bei seiner Großmutter, die ihn regelmäßig in der Klinik besucht. Gemeinsam mit seiner Tante ist sie seine engste Bezugsperson. Wenn ihm deutlich wird, dass wir auch seine Familie vernehmen, könnte das seine Bereitschaft auszusagen erhöhen. Es wäre auch hilfreich, wenn die Familie auf ihn einwirkt.
Die Kollegen sollten betonen, dass wir nicht lockerlassen. Und sie sollten ihn mit den Indizien konfrontieren, dabei aber empathisch und verständnisvoll bleiben. Lehmann nahm seine Taten manchmal mit der Kamera auf und spielte die Filme Teenagern vor, die er zu sich nach Hause lockte. Die Filme hat Lehmann gelöscht, aber einer dieser Jugendlichen sagt nun aus, dass Lehmann ihm eine Szene im Wald zeigte – mit einem Mädchen, das wie Hilal aussah. Obwohl er seinen jugendlichen Freunden gegenüber selten aggressiv wurde, drohte Lehmann dem Jungen, ja nichts zu erzählen. Womöglich hat er bei seiner letzten Tat das Würgen abgebrochen, weil in diesem Moment der innere Film vom Mord an Hilal vor seinen Augen ablief. Die Vorführung des Filmes vor dem Jugendlichen spricht dafür, dass er ambivalent ist. Er will es einerseits verschweigen, anderseits auch »loswerden«, und zwar nicht die Wahrheit, sondern die Schuld. Wenn man an seiner Erinnerung rührt, könnte es dazu führen, dass die dazugehörigen Emotionen wieder sehr stark aufgewühlt werden. Da dieser Mann seine Gefühle nur schwer regulieren kann, ist es wahrscheinlich, dass er gesteht, um den inneren Druck loszuwerden.
Die Polizisten sollen in der Vernehmung erwähnen, wie erleichtert Täter sind, nachdem sie gestanden haben. Dass er es in der Hand hat, die Familie von Hilal von ihren furchtbaren Zweifeln zu erlösen. Das dürfte sein Bedürfnis berühren, von den Beamten gemocht zu werden, weil sie ihm dankbar sind. Die Polizisten können sagen, es habe sich ohnehin gezeigt, dass er aus dem Tod von Hilal gelernt hat: Schließlich ließ er von seinem letzten Opfer rechtzeitig ab. Er müsse keine Angst haben, dass die Beamten ihn für ein Monster halten. Mir scheint es möglich, dass er seine Tat erst einem vertrauten Psychologen im Therapiegespräch gesteht. Das gebe ich den Kollegen mit auf den Weg.
Es kommt zu zwei Vernehmungen. Lehmann streitet alles ab. Doch dann offenbart er sich in der Klinik: Ja, ich habe Hilal ermordet. Kurz
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