Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen: Narzissten, um sich einzigartig zu fühlen; Dependente, um den Vernehmenden zu gefallen; Borderliner, um sich selbst zu schaden. Und ein weiterer Faktor erhöht das Risiko eines Falschgeständnisses: ein niedriger IQ . Wer nicht intelligent genug ist, die Konsequenzen seines Handelns abzuschätzen, folgt schneller Impulsen, die ihm kurzfristig helfen, aber ihn langfristig in große Schwierigkeiten bringen. Lehmann: Borderline-Störung, Narzissmus, Dependenz und ein IQ von weniger als 90.
Ich gehe Zeugenaussagen durch. Die äußeren Umstände zur Zeit des Geständnisses: Lehmann wurde von anderen Patienten als Kinderschänder beschimpft, es wurden ihm Prügel angedroht. Er stand also unter Druck und hatte Angst. Vor dem Geständnis wurde ihm Rauchverbot erteilt, was ihn sehr quälte. Und dann kamen die Besucher von der Polizei, über die er sich bei allen Vorhaltungen auch freute: Sie schenkten ihm so viel Aufmerksamkeit und gingen höflich mit ihm um. Insbesondere einen Kommissar fand er »sehr nett«, wie er später in der Klinik erzählte. Wollte er einfach irgendwas machen, um den Druck loszuwerden, unter dem er stand? Dabei auch dafür sorgen, dass die netten Polizisten wiederkommen? Wollte er nur irgendwie seine Situation verbessern? Als einziger Mensch auf der ganzen Welt, der weiß, wo die Leiche liegt, wäre er auf einmal ein bedeutender Patient auf der Station, eine Art V.I.P., er wäre schützenswerter, könnte Privilegien verlangen. Das könnten seine kindlichen Gedanken gewesen sein.
Ja, es ist aus psychologischer Sicht durchaus möglich, dass er sich sein Geständnis ausgedacht hat, sage ich den Kollegen. Als der ersehnte Zustand erreicht war und er mit »Zuwendung« versorgt war, die Polizei mit ihm sogar einen »Ausflug« unternahm, war es nicht mehr nötig, die Lüge aufrechtzuerhalten. Er widerrief.
Aber es könnte auch sein, dass er die Wahrheit sagte. Sie könnte aus ihm herausgebrochen sein, damit er wenigstens eine Last loswird. Lehmann ist zwar vielleicht nicht emotional, aber kognitiv imstande, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, und er hat Angst vor Strafe. Er stellte sich nach seiner letzten Tat, weil er fürchtete, ohnehin gefasst zu werden, und sich erhoffte, dadurch besser behandelt zu werden. In der Klinik beichtete er einmal von sich aus, dass er sich nicht an ein Verbot gehalten hat – aus Angst vor Strafe. Derselbe Entlastungswunsch könnte beim Geständnis gewaltet haben. Und als er die Entlastung spürte, machte er einen Rückzieher, weil er nicht so weit denken konnte, dass das Problem und der Druck dadurch nur aufgeschoben wären. Auch das würde seinem kindlichen Denken entsprechen.
Leider kann ich den Kollegen keine Gewissheit geben. Aber falls Lehmann der Täter sein sollte, müssen wir uns fragen: Welche Widerstände könnten ihn daran hindern, alles zu gestehen, indem er uns zur Leiche führt?
Wir können nur eines machen: Die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Lehmann sich öffnet und die Wahrheit sagt, sofern er sie wirklich weiß. Die Ermittler und ich setzen uns zusammen. Was könnte ihn davon abhalten, sich zu offenbaren? Hat er Angst, seine Großmutter und seine Tante könnten sich abwenden, wenn sie erfahren, dass er ein Mörder ist? Wir müssen mit den beiden reden.
Die Großmutter sagt uns: Ja, ihr Enkel könnte der Mörder sein, sie befürchte das auch. Aber sie würde ihn nicht fallenlassen. Und so sitzt Lehmann ein paar Tage später Großmutter und Tante im Besucherzimmer gegenüber. Sie versichern ihm ihre Unterstützung. Er soll es ruhig zugeben, wenn er der Täter war, endlich reinen Tisch machen und die Polizei zur Leiche führen. »Ich war es nicht«, sagt Lehmann.
Und nun? Sollten wir ihm gemeinsam mit seiner Familie drohen? Keine Besuche mehr! Oder sollte ihn jemand in den Gesprächen »härter anfassen«? Nein. Ohnehin ist ein aggressives Vernehmungsverhalten selten hilfreich. Es gibt aus Actionfilmen den Mythos von »Good Cop, Bad Cop«, die sich vorher absprechen, wer den Verdächtigen »auseinandernimmt«. Aber ein Bad Cop zerstört mehr, als er bewirkt: nämlich die nötige Beziehung für ein Geständnis. Und der Good Cop? Zu welchem der Beamten der Verdächtige eine bessere Beziehung aufbauen kann, ergibt sich erst in der Vernehmungssituation. Wen schaut er an? Bei welchen Themen? In peinlichen Momenten? Es ist sinnvoller, wenn der Vernehmende seinen Good Cop selbst aussucht. Entsprechend stellt
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