Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
darauf wiederholt er das Geständnis vor der Polizei. Er habe Hilal entführt, missbraucht, getötet und dann im Stadtpark vergraben.
»Hilals Schicksal vor Aufklärung«?
Gleich am folgenden Tag fahren mehrere Polizeibeamte mit Lehmann in den Stadtpark. Er ist etwas aufgeregt, wirkt aber sehr bemüht. Er führt sie zu einer Stelle unter Bäumen. Die Beamten und ihre Helfer graben. Sie finden nichts.
Lehmann sagt: »Ich war es doch nicht.«
Einige Tage später kommen die Ermittler mit der nächsten Frage zu mir: Erscheint das Geständnis wirklichkeitsnah, oder ist es womöglich ein Falschgeständnis? So sitze ich in unserem Besprechungsraum vor dem Fernseher und schaue mir das Video der Vernehmung an. Lehmann spricht von der Tat, die er begangen haben will. Sein Blick ist starr. Er sieht dem Ermittler in die Augen. Fast krampfhaft. Das ist auffällig. Er spricht sehr hölzern. Denkt er sich etwas aus? Lügt er?
Man kann das höchstens vermuten. Mit Gewissheit kann das auch kein Psychologe sagen. Die wissenschaftliche Forschung kommt seit über 100 Jahren immer wieder zum gleichen Ergebnis: Es gibt keine eindeutigen Signale, anhand derer ein Lügner entlarvt werden kann, auch wenn das immer wieder behauptet wird. Auch als ich im Jahr 2003 ein viermonatiges Seminar in den USA besuchte, um in der Anwendung eines Polygraphen, eines Lügendetektors, ausgebildet zu werden, lernte ich: Eindeutige Symptome gibt es nicht. Zwar kursiert beispielsweise die Theorie, dass die Blickrichtung beim Reden etwas über den Denkprozess aussagen würde. Blickt man in die linke Ecke, konstruiert man etwas, blickt man nach rechts, ruft man eine Erinnerung ab. Auch das stimmt leider nicht. Solche auffälligen Verhaltensweisen wie Lehmanns starrer Blick oder auch ein Stottern können nur als Indiz dafür dienen, dass wir uns an dieser Stelle das Gesagte genauer ansehen müssen. Ob der Mann starr in die Augen blickt, weil er die Wahrheit sagt? Oder weil ihn die Vernehmungssituation nervös macht? Oder weil er krampfhaft darüber hinwegtäuschen will, dass er lügt? Niemand weiß das, nur Lehmann. Und selbst darüber können wir uns bei diesem Menschen nicht ganz sicher sein.
Wir stecken in einem Dilemma. Wir haben keine Spuren von der Tat, nichts. Wir können deshalb nicht den Tathergang analysieren und daraus lesen, was den Täter motiviert hat und wo seine empfindlichen Punkte liegen. Wir können ihn auch nicht mit Fakten konfrontieren. Und wir können den Wahrheitsgehalt seines Geständnisses nur schwer verifizieren.
Denn zur Überprüfung, ob ein Geständiger die Wahrheit sagt, dient am besten das sogenannte Täterwissen. Das sind Details einer Tat, die nur die Polizei und der Täter wissen können: der Platz, an dem das Opfer versteckt wurde, ob es vergraben oder abgelegt, erwürgt oder erstochen wurde, in welcher Form er es missbraucht hat und welche Farbe das Seil hatte, mit dem es gefesselt war.
Oder: welche Farbe der Slip des Opfers hatte.
Hier gibt es eine Stelle in Lehmanns sonderbarem Geständnis, die uns stutzig macht. Wir wissen von den Eltern, was Hilal an jenem Tag trug. Der Junge, dem Lehmann das Video aus dem Wald vorspielte, wurde auch gefragt, was das Mädchen anhatte. Er konnte Hilals Unterhose beschreiben, die durchaus eine außergewöhnliche Farbe hatte!
War es ein Falschgeständnis oder ein wahres, bei dem Lehmann nasse Füße bekommen hat? Falschgeständnisse kommen aus unterschiedlichen Motiven zustande. Manche Menschen gestehen, weil sie äußerem Druck nicht standhalten können. Folteropfer etwa versuchen sich mit Falschgeständnissen zu retten, aber bei labilen Menschen kann auch eine korrekte rechtsstaatliche Vernehmung dazu führen, dass sie unbedingt diese für sie unerträgliche Situation beenden wollen. Bei bestimmten Persönlichkeiten reichen auch geringer Druck und suggestive Fragen dafür aus, dass sie Erinnerungslücken füllen, weil sie das Gegenüber zufriedenstellen wollen oder sogar, weil sie der eigenen Erinnerung nicht vertrauen. Das kann so weit gehen, dass sie selbst glauben, was sie sagen. Ihr Gedächtnis ist verschmutzt.
Es gibt auch Falschgeständnisse, die ohne Druck oder Suggestion zustande kommen. Etwa, weil jemand einen anderen Menschen decken will, oder aufgrund psychischer Erkrankungen. Beispielsweise können psychotische Menschen die Realität von Wahnvorstellungen und Halluzinationen oft nicht abgrenzen. Auch Persönlichkeitsgestörte bezichtigen sich manchmal selbst, um
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