Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
weiterhin mit dieser Zerrissenheit leben, die nicht endet. Dafür wäre vor allem das Abschiednehmen nötig. Es ist wichtig für Eltern, ihr Kind am Totenbett zu besuchen. Der Moment ist unsagbar traurig und erschütternd, aber es ist ein Augenblick, in dem die Wahrheit im Wortsinne greifbar wird. Sie können ihr Mädchen berühren, ihm über die Wange streichen, mit eigenen Augen sehen: »Es ist tot, das ist eine Tatsache.« Es ist sehr schmerzvoll, bringt aber auch die Chance zu verarbeiten. Man kann sich dann auch später an all die schönen Momente erinnern, diesen Verlust als das traurige Ende in einem schönen Buch verstehen, dessen schöne Stellen man in der Erinnerung immer wieder aufschlagen kann.
Und die Familie E.? Lebt Hilal? Ist sie tot? Hoffen wir? Oder nehmen wir es hin? Eine solche Situation kann zu weiteren schweren Problemen in Familien führen. Jeder verarbeitet auf seine Art, jeder bräuchte Unterstützung, die ihm der andere nicht geben kann, weil er selbst hilfsbedürftig ist. Der eine Elternteil geht davon aus, dass sie tot ist und versucht zu trauern. Er schreit vielleicht: Wir müssen es akzeptieren, unser Leben geht weiter! Der andere wirft ihm vor: Wie kannst du unser kleines Mädchen aufgeben! Die Geschwister leiden nicht nur unter dem Verlust, sondern auch darunter, dass sich die Eltern zu wenig um sie kümmern können. Oder sie leiden unter der Angst der Eltern. Die Eltern bringen es nicht mehr über sich, den zwölfjährigen Sohn allein aus dem Haus gehen zu lassen, doch sie wissen, dass er sich vor seinen Klassenkameraden schämt, wenn Mama immer mit zur Schule kommt. Diese Konflikte, dieser Schmerz, diese Ängste und Zweifel lassen sich aus einer Familienbiographie nicht mehr ausradieren. Man kann irgendwann den leeren Stuhl am Küchentisch auf den Dachboden stellen, aber er wird trotzdem immer mahnend im Raum stehen.
Was machen wir mit der Aussteuer, die wir für Hilal schon seit ihrer Geburt sammeln? Sollen wir sie wegschmeißen? Wann räumen wir das Kinderzimmer aus? Wäre das nicht Verrat? Wie erklären wir das Hilal, falls sie doch noch zurückkehrt? Die Mutter würde gerne wieder in die Türkei ziehen. Aber darf die Familie das? Was, falls Hilal doch noch wiederkommt und ihre Familie in ein für sie fremdes Land gezogen ist? Hätten wir sie dann nicht im Stich gelassen? Das Leiden der Familie E. geht weiter.
Sechs Jahre später, im März 2005, sind die Zeitungen wieder voll mit Berichten über Hilal: »Hilals Schicksal vor Aufklärung« heißt es.
Ein Mann hat gestanden.
Seit fünf Jahren befindet sich Thomas Lehmann in der forensischen Abteilung einer psychiatrischen Klinik in Hamburg. Das Landgericht hat ihn dazu verurteilt, weil er sechs Kinder und Jugendliche missbraucht oder sexuell genötigt hat. Zuletzt hatte Lehmann im Mai 2000 ein achtjähriges Mädchen in sein Auto gelockt und es am Hals gewürgt, weil es sich nicht ausziehen wollte. Als das Mädchen fast bewusstlos war, ließ er ab und brachte es zu einer Polizeiwache. Er befahl dem Kind zu erzählen, es sei von Jungen verprügelt worden. Er selbst sagte den Beamten, er habe das verletzte Mädchen am Straßenrand gefunden. Lehmann wirkte absolut überzeugend. Er gab den Polizisten seine Personalien. Auf der Heimfahrt dämmerte ihm, dass er sicherlich identifiziert würde, wenn das Mädchen doch aussagte. Er stellte sich. Im Lauf der Ermittlungen kam heraus, dass Lehmann mindestens fünf weitere Kinder und Jugendliche missbraucht hatte.
Lehmann erschien uns gleich nach seiner Verhaftung verdächtig, auch Hilal entführt zu haben. Er hat eine Glatze; die Beschreibung »Kojak« konnte passen. Bei seiner letzten Tat wendete er lebensbedrohliche Gewalt an. Er ließ zwar von dem Mädchen ab, weil er von der eigenen Aggression geschockt war, aber das heißt nicht, dass er nicht zuvor ein Mädchen getötet haben könnte, vielleicht weil er zu spät seinen Griff löste. Mädchen, kurz vor der Pubertät, waren für ihn anziehend. Er neigte zum Cruisen mit dem Auto, um spontan Opfer aufzugreifen, die er gerne mit dem Angebot lockte, für Geld Zeitungen auszutragen. Auch er fuhr einen grünen VW -Golf, wie ihn Zeugen zum Zeitpunkt von Hilals Verschwinden gesehen hatten. Diesen Wagen verkaufte er kurz danach zu einem auffallend niedrigen Preis ins Ausland, wo er trotz aufwendiger Ermittlungen nicht mehr zu finden war. Hat er so alle Spuren beseitigt?
Der Verdacht erhärtete sich vorerst nicht, da Lehmann für den Tag von
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