Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
bombt dann beispielsweise weiter, um die vermeintlich fehlende Zahlungsbereitschaft zu erhöhen, dabei war sein Plan einfach zu kompliziert. In diesem Fall ist es aber anders, der Täter fragt nach.
Ich lese den Brief wieder und wieder durch, lasse das bisher Geschehene Revue passieren. Warum will dieser Mensch uns unbedingt mitteilen, dass ihm die Erpressung keinen Spaß macht? Warum möchte er so dringend ernst genommen werden? Er schreibt von einer »verzweifelten Situation« und von »Suicid«. Ohnehin ist ein Verbrechen immer ein Hinweis auf ein selbstschädigendes Lebenskonzept. Man muss sich isolieren von seinem sozialen Umfeld, damit Freunde oder Angehörige nichts mitbekommen. Geheimnisse machen einsam. Man geht das Risiko ein, erwischt zu werden. Es drohen soziale Ächtung, Statusverlust und der Verlust an Freiheit. Befindet sich dieser Täter also in einer akuten suizidalen Krise? Wohl kaum. Dazu ist sein Denk- und Urteilsvermögen zu klar. Seine Tat sähe chaotischer aus, es wäre nicht diese zeitliche und logische Stringenz in seinem Plan erkennbar. Er scheint das Thema Suizid eher als moralisches Druckmittel einzusetzen. Er will vermutlich Schuldgefühle erzeugen: Gebt mir schnell das Geld, sonst seid ihr dafür verantwortlich, dass ich mich umbringe! Eine andere Frage erscheint mir wichtiger: Warum versucht er, uns auf diese Art zu manipulieren? Fühlt dieser Täter sich in Wahrheit unterlegen und versucht das zu kaschieren, zu kompensieren?
Das Machtgefälle beginnt langsam, sich zu verschieben.
Am 8. 8. kommt das nächste Schreiben, am 14. 8. folgt dann der zuvor angekündigte Anruf. Der Bote wird von einer Computerstimme zu einem Schließfach in Hamburg-Altona geschickt, wo er eine Reisetasche und ein neues Abwurfgerät findet sowie ein weiteres Schreiben. Darin nennt der Täter den Zug und wie die Tasche befestigt werden soll. Und er schreibt:
Man wird mir berichten wie Sie sich dabei angestellt haben also keine Mätzchen.
Ich habe eine Bombe in Karstadt versteckt.
Die Bombe hat einen Langzeitzünder. 12 Uhr ist eingestellt Tag ? Bei erfolgreicher Übergabe werde ich rechtzeitig Informieren über den Ort.
Zu Ihrer Information ich bin bewaffnet und werde gebrauch davon machen.
Ich werde mich einer Verhaftung durch Selbsttötung entziehen.
Sagen Sie Ihrem Helicopter-Piloten wenn er zu tief fliegt wird er abgeschossen.
Ich habe nichts zu verlieren!
Die Techniker des MEK untersuchen noch am Schließfach das Abwurfgerät. Wie beim ersten Apparat ist auch hier eine Zeitschaltuhr eingebaut, die auf 17:15 Uhr gestellt ist. Damit soll offenbar der Mechanismus aktiviert werden: Um 17:15 Uhr schaltet er sich ein und lässt sich dann über ein Funksignal auslösen. Der Bote und ein ganzer Polizeitrupp besteigen den Zug. Sie rechnen mit einem Abwurf ab 17:15 Uhr. An der berechneten Abwurfstelle warten viele Polizisten auf den Täter.
Aber es ist ein Trick. Bereits um 17:02 Uhr wird in der Nähe von Reinbek die Tasche gelöst, 13 Minuten zu früh für uns. Der Einsatzleiter lässt den Zug abbremsen, die Zugriffskräfte springen ab, sehen einen Mann, der die Tasche aufgreift und mit ihr in den Wald flüchtet.
Dagobert hat uns überlistet. Die Techniker entdecken später, dass er die Uhr mit der falschen Zeit gezielt eingebaut hat, um uns in die Irre zu führen. Im Abwurfapparat ist eine zweite Uhr versteckt, die den Mechanismus früher ausgelöst hat.
Und wir haben eine Tasche ohne Geld abgeworfen.
Ich ahne, dass das Folgen haben wird. Dieser Mann mag zwar technische Vorgänge reflektieren und Fehler eingestehen. Den tatsächlichen Unrechtscharakter seiner Tat wird er jedoch meiner Vermutung nach nicht reflektieren. Er würde sich nicht fragen: »Was mache ich hier eigentlich? Wieso erpresse ich jemanden? Mit welchem Recht?« Der Wandel an Rechtsbewusstsein hat sich wahrscheinlich schon längst vor der eigentlichen Tat vollzogen. Hat er für sich einen Weg gefunden, eine solche Tat zu legitimieren? Hätte er sonst nicht spätestens beim Aufkeimen der Tatidee den Gedanken daran verworfen? Stattdessen ist er in die Planungs- und dann in die Durchführungsphase übergegangen. Moralische Skrupel würden ihn vermutlich nicht davon abhalten, auf das Scheitern zu reagieren. Ich glaube: Dieser Mensch würde bomben.
Am 9. 9. um 23:30 Uhr explodiert in einer Karstadt-Filiale in Bremen eine Bombe, die 6,5 Millionen Mark Schaden anrichtet. Am 15. 9. um 18:00 Uhr explodiert in der Haushaltswarenabteilung einer
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