Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
Vorgehen berücksichtigen.
Wir stehen am Anfang eines Machtspiels.
Zu Beginn ist in solchen Fällen der Täter im Vorteil: Seine Bombe hat ihm Macht verschafft. Er droht mit weiterer Gewalt, dadurch erlangt er Kontrolle über das Handeln seines Gegenübers. Er ist ein Unbekannter, er kann überall sein. Er trifft die ersten Entscheidungen, er stellt Forderungen und gibt dabei die Regeln für das »Spiel« vor, so wie sie für ihn am erfolgversprechendsten und am ungefährlichsten erscheinen. Er ist der Handelnde, und die Polizei kann erst einmal nur reagieren. Aber der Erpresser hat auch ein Problem: Er will etwas. Und um es zu bekommen, muss er kommunizieren. Was nun beginnt, ist ein Ringen um Informationen. Der Täter braucht Informationen, um zu wissen, wie er an sein Geld kommt. Wir brauchen Informationen, um ihn besser einzuschätzen: Was könnte ihn erneut veranlassen zu bomben, was könnte ihn davon abhalten? Wie könnten wir ihn einkreisen?
Der erste Schritt ist getan. »Dagobert« hat kein Geld bekommen. Sein Plan ist nicht aufgegangen. Aber er weiß nicht, warum. Lag es an mangelnder Zahlungsbereitschaft oder an seinem vielleicht doch nicht ganz perfekten Übergabeplan? Um das herauszufinden, muss er aus seiner Deckung kommen und sich bei uns melden.
Am 22. 7. kündigt der Erpresser in einem Brief einen Anruf bei Karstadt an. Er will eine Erklärung für die gescheiterte Übergabe hören.
Zwei Tage später klingelt bei Karstadt das Telefon. Ein Mitglied unserer Verhandlungsgruppe gibt sich als Karstadtmitarbeiter aus. Der Täter weiß zwar, dass die Polizei involviert ist. Aber er soll den Eindruck haben, direkt mit jenen zu verhandeln, die seinen Wunsch erfüllen können: Karstadt. Unser Mann trägt dem Täter die Erklärung vor: Die Übergabe war zu kompliziert, sein Funkspruch unverständlich, die Gäste im Zug waren sehr aufgeregt und der Ablösemechanismus hat wohl nicht richtig funktioniert, jedenfalls hat das Bahnpersonal an der Endstation noch die Tasche am Puffer hängend vorgefunden. Die Polizei hat alles getan, was in ihrer Macht stand, aber die Übergabe war einfach zu unsicher. Das Paket hätte ja sogar in falsche Hände gelangen können. Unsere Taktik: Der Täter soll nicht an der Zahlungsbereitschaft des Konzerns zweifeln, sondern Zweifel an der Fehlerlosigkeit seines Planes bekommen. Könnte es nicht sein, dass die Geldübergabe gescheitert ist aufgrund des Wetters oder aufgrund von Planungsfehlern des Täters oder Durchführungsfehlern der Geldboten? Wir hoffen, dass Dagobert dann bereit ist, nach einer weiteren gescheiterten Übergabe erneut Kontakt zu suchen – weil er herausbekommen will, woran es lag. So können wir ihn womöglich von weiteren Bomben abhalten. Und wir kommen näher an ihn heran.
Das nächste Schreiben am 3. 8. bestätigt unsere Hoffnung:
Sehr geehrte Geschäftsleitung; Kriminalpolizei
Auch mir macht diese Erpressung keinen Spass, aber ich habe keine andere Wahl.
Meine Situation ist verzweifelt, die Alternative ist Suicid.
Das ist der Grund, daß ich werde die Sache durchführen bis zum Ende.
Ich werde diesesmal keine Bombe legen. Bei einem weiteren Fehlschlag würde ich in Zugzwang kommen und eine weiter Explosion wär unvermeidlich (…)
Der Erpresser kündigt eine Übergabe in zwei Wochen mit einem verbesserten Abwurfgerät an.
Wenn ich ein solches Schreiben analysiere, konzentriere ich mich vor allem auf die überflüssigen Details. Er hätte uns einfach einen neuen Termin nennen und rechtzeitig die Übergabemodalitäten durchgeben können. Stattdessen verrät er uns einiges über sich: Wir haben es mit jemandem zu tun, der reflektiert, der imstande ist, Fehler auch bei sich zu suchen – zumindest was die technischen Belange des Übergabeplanes angeht.
Das ist bei Erpressern nicht immer so. Manche sind hundertprozentig überzeugt von der Perfektion ihres Planes. Diese Illusion gibt ihnen das Gefühl, die Situation total unter Kontrolle zu haben. Dabei sind die meisten Übergabepläne fehlerhaft. Es kommt zu technischem Versagen, oder der Erpresser hat nicht alles bedacht. Nicht seinen hohen Angst- und Stresspegel vor und insbesondere während der Übergabe. Er macht Fehler.
Die Verantwortung für sein eigenes Versagen schiebt er jedoch anderen zu, dem Opfer, der Polizei. Das macht die Situation psychisch erträglicher, denn es fällt vielen Menschen schwer, Fehler bei sich zu suchen. Aber es hindert sie zugleich daran, aus ihnen zu lernen. Ein Erpresser
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