Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
für die erste »Runde«, in der sich von nun an fast täglich die Chefs der beteiligten Dienststellen treffen. Der Leiter des Raubdezernats, seine Mitarbeiter und die Kollegen der Verhandlungsgruppe warten bereits. Wir müssen unbedingt verhindern, dass dieser Täter seine angekündigte Drohung »Nächstes Mal wird es zur Katastrophe kommen« wahr machen wird. Ist es am besten, seine Forderung zu erfüllen und ihm eine Million Mark zu geben? Ist damit wirklich die Gefahr gebannt? Wird dieser Täter nicht erneut zuschlagen, wenn er lernt: eine Bombe zu Beginn – eine schriftliche Androhung von noch Schlimmerem und schon bin ich reich? Gibt es nicht andere Wege zu verhindern, dass er seine Drohung wahr macht? Stundenlang sitzen wir zusammen, reichen die Berichte herum, lassen uns die Tatortanalyse vortragen, wägen das Für und Wider ab, um eine erste Taktik zu entwickeln.
Bei einer derart großen Bedrohung wie einer Erpressung mit Bombenanschlägen wird eine »Besondere Aufbauorganisation« eingerichtet. Spezialisten der Polizei werden in verschiedene »Einsatzabschnitte« aufgeteilt, genau nach Aufgabengebiet, damit kein Chaos entsteht. Im Lauf der Dagobert-Erpressung besteht dieser Apparat aus mehreren Hundert Beamten. An der Spitze steht der Polizeiführer Michael Daleki mit seinem »Führungsstab«, der alles koordiniert. Ihm unterstehen in Hamburg und später in Berlin je ein Einsatzabschnitt »Operative Maßnahmen«, der die Geldübergaben, Telefonzellenüberwachungen und Festnahmeversuche durchführt. Ein Abschnitt »Ermittlungen« folgt den Spuren, die Dagobert im Lauf der Erpressung hinterlässt. Ein Abschnitt »Pressearbeit« informiert die Medien und versucht, sie im Zaum zu halten. Und es gibt den Abschnitt: »Verhandlungsgruppe / Täterkontakte«. Hier arbeite ich. Wir müssen mit dem Erpresser kommunizieren. Aber vorerst müssen wir abwarten.
Am 14. Juli 1992 um 16:09 Uhr geht der von Dagobert angekündigte Anruf bei Karstadt in Hamburg ein. Es ist der Auftakt zu einer Schnitzeljagd, und es soll nicht die letzte bleiben. Aus dem Telefonhörer ist eine Computerstimme vom Band zu hören. Sie gibt die fehlenden Worte aus dem Lückentext durch. Der Geldbote soll auf der Bundesstraße 105 zum Kilometerstein 84 vor Bad Doberan fahren. Er tut es. Dort meldet sich der Erpresser über Funk und lässt eine Computerstimme vom Band Anweisungen durchgeben: Der Bote muss weiter zum Kilometerstein 79 fahren, wo er an einem Leitungsmast einen Kasten findet. Darin liegen eine Nachricht, eine Tasche – und ein selbstgebastelter Abwurfmechanismus mit drei Magneten. Der Bote soll in den Zug Rostock–Berlin steigen und das Abwurfgerät mit den Magneten am rechten Puffer des letzten Waggons befestigen. Das Geld soll er in die Tasche packen und die Tasche an einem Haken am Abwurfgerät einhängen.
Also besteigt der Geldbote mit mehreren Beamten vom Mobilen Einsatzkommando ( MEK ) den Zug. Gegen 22:30 Uhr löst der Täter mit einem Funksignal den Mechanismus aus. Der Haken öffnet sich. Aber die Tasche fällt nicht, die Beamten haben sie so befestigt, dass sie am Zug hängenbleibt. Die Polizisten, die vom Waggon springen, sehen nur noch den Lichtkegel einer Taschenlampe, der sich rasch entfernt.
Wir haben uns entschieden, dass dieser Täter möglichst nicht zu seinem Geld kommen darf. Denn das wird die Gefahr nur erhöhen. Es hilft niemandem, wenn wir diesen Mann zufriedenstellen. Wir glauben: Das Risiko ist zu hoch, dass er nach einem Erfolg wieder bombt und wieder erpresst. Dann hätten wir die Bevölkerung nicht beschützt, sondern einen Serientäter geschaffen. Und der Ablauf des ersten Übergabeversuchs bestätigt diese Befürchtung: Wahrscheinlich haben wir es mit dem gleichen Täter zu tun, der bereits 1988 das Kaufhaus KaDeWe in Berlin um 500 000 DM erpresst hat. Auch damals verwendete der Täter eine Rohrbombe, ließ das Geld aus einem Zug werfen und verschwand unerkannt. Wahrscheinlich haben wir es bereits mit einem Serientäter zu tun. Wir sind uns einig: Wir müssen ihn fassen.
Damit stehen wir vor einer Herausforderung, die häufig bei Erpressungen auftritt. Sie unterscheidet diesen Fall von den meisten anderen Verbrechen: Wir müssen jemanden aufspüren, während er seine Tat noch ausführt und Gefahr von ihm ausgeht. Darum müssen wir sehr behutsam vorgehen. Unser ganzes Tun kann sein Handeln beeinflussen und gefährliche Folgen haben. Und jeden Schritt des Täters müssen wir bei unserem weiteren
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