Warum tötest du, Zaid?
der Familie vor die Tür gelegt. Im selben Monat seien zwei weitere Verwandte beim Bewässern ihrer Felder von amerikanischen Scharfschützen erschossen worden.
Er, Abu Saeed, wohne in Al-Dschasira, einem malerischen Ortsteil von Ramadi. Im Fastenmonat Ramadan des Jahres 2005 hätten dort sechzehn Mitglieder seiner engsten Verwandtschaft in einer Moschee am Nachtgebet teilgenommen. Die sechzehn Männer seien nach dem Gebet am Eingang der Moschee stehen geblieben, um noch ein bisschen zu reden.
Plötzlich sei die Moschee von einem amerikanischen Flugzeug bombardiert worden. Seine Verwandten seien durch die gewaltige Explosion der Bombe in Stücke gerissen
worden. Ihre zerfetzten Körperteile hätten auf der Straße und in den Gärten der Nachbarn gelegen sowie in den Ästen der Bäume gehangen, die die Moschee umgeben. Alle seien sofort tot gewesen.
Die Besatzungstruppen hätten nicht nur in Ramadi rücksichtslos Moscheen angegriffen. In Bagdad habe ein Imam nach einem Bombenangriff über Lautsprecher nach Blutspendern gerufen. Daraufhin sei die Moschee von amerikanischen Hubschraubern bombardiert und der Imam erschossen worden.
Ganz plötzlich fängt der bisher so ruhige Abu Saeed an zu weinen. Sein ganzer Körper wird von Weinkrämpfen geschüttelt. Der kleine Ali, der wieder geschlafen hatte, schaut mich vorwurfsvoll an. Wahrscheinlich glaubt er, ich hätte seinem Vater etwas Böses gesagt. Mit seinen winzigen Händen versucht er, das Gesicht seines Vaters zu streicheln. Ich bin wütend auf mich, weil ich Abu Saeed so sehr mit meinen quälenden Fragen bedrängt habe. Und Abu Saeed scheint zornig auf sich zu sein, weil er seine Tränen nicht zurückhalten kann.
Fast trotzig fährt er nach einer Weile fort: Als Grund für das Bombardement hätten die Amerikaner angegeben, das Viertel, in dem die Moschee liegt, unterstütze den Widerstand. Aber mit dieser Begründung könne man den ganzen Irak platt bomben. Abu Saeed atmet mehrere Male tief durch. Er will nicht zeigen, dass er noch immer mit den Tränen kämpft. Er blickt wieder starr geradeaus.
Die westlichen Politiker seien schon merkwürdige Helden. Sie protestierten in Moskau und Peking gegen Menschenrechtsverletzungen, in Washington aber schwiegen sie. Seine Großfamilie habe mehr als fünfzig Mitglieder verloren, darunter mehrere junge Leute, die ihr Leben noch vor sich hatten. Er und seine Frau hätten längst aufgehört, die Toten zu zählen. Ob ich noch immer wissen
wolle, warum er wie fast alle Iraker den Widerstand unterstütze. Ich schüttle den Kopf.
Al-Dschasira, die Insel
In der Ferne erblicke ich Palmenhaine. Ramadi, umgeben von Palmen? Ich hatte mir die einstige Hauptstadt von Al-Qaida im umkämpften sunnitischen Dreieck ganz anders vorgestellt. Alle im Auto sind aufgewacht. Der kleine Ali reibt sich müde die Augen und schaut, ob bei seinem Vater wieder alles in Ordnung ist. Shala räkelt sich etwas mürrisch und streicht sich die Haare zurecht.
Wir überqueren den dunkelblauen Euphrat. Musa hat den Fuß vom Gaspedal genommen und rollt langsam auf den ersten Kontrollposten zu. Einer der vermummten irakischen Polizisten, die ihr Maschinengewehr in einem ausgebrannten Autowrack aufgebaut haben, schiebt seine Waffe an Musas Fenster. Als er meinen deutschen Pass sieht, beginnt wieder ein endloses Palaver.
Die Spannung entlädt sich, als der vermummte Polizist Abu Saeed fragt, wie viel er für mich verlange. Die Provinz Anbar, deren Hauptstadt Ramadi ist, ist berüchtigt für Schmuggel, Straßenräuberei und Entführungen. »Den könnt ihr euch nicht leisten«, erwidert Abu Saeed trocken, und Musa schließt achselzuckend das Fenster.
Wieder müssen wir Slalom fahren durch Betonwälle, Schießstände und Stacheldrahtabsperrungen. Rechts der Straße erhebt sich ein mächtiger, mit Netzen getarnter Wachturm, aus dessen Fenster Maschinengewehre lugen. Es ist das amerikanische Hauptquartier in Ramadi, einst ein Palast Saddam Husseins. Ramadi war die erste Stadt, in der der frühere irakische Diktator nach dem Fall Bagdads sein Quartier aufschlug.
»Kamera runter!«, zischt Abu Saeed, als ich versuche, Aufnahmen von diesem gespenstischen, alle übrigen Bauten überragenden Gebäude zu machen.
Über eine staubige, unbefestigte Straße geht es zwischen hohen Dattelpalmen Richtung Al-Dschasira, jene dörflich wirkende Oase am Stadtrand von Ramadi, in der Abu Saeed mit seiner Familie lebt und deren Name »Insel« bedeutet. Vor uns immer wieder
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