Warum unsere Kinder Tyrannen werden
die Arbeitsanweisung mehrfach zu wiederholen. Sie verstärkt damit das falsche Weltbild, das für das Verhalten des Jungen verantwortlich ist. Denn nur die allererste Anweisung ist ein bewusster, von der eigentlichen Respektsperson gesteuerter Akt. Bereits die erste Wiederholung und erst recht jede weitere Aufforderung rücken die Lehrerin an die Stelle eines Objektes, das vom Kind beliebig gesteuert werden kann. Philipp »lernt«, dass er nach Verweigerung eines Auftrages keine Konsequenzen zu befürchten hat, sondern, dass es ihm mit Leichtigkeit gelingt, den jeweiligen Erwachsenen zu steuern. Die Reaktion der Mutter (»Zuhause ist er auch so«) zeigt zudem in aller Deutlichkeit, dass der Junge dieses Verhaltensmuster überall an den Tag legt, wo er normalerweise im Alter von sieben Jahren in der Lage sein müsste, sich einzuordnen und seinen Teil zum Funktionieren der Gemeinschaft beizutragen.
Denn es geht ja nicht darum, Kinder wie Philipp zu willenlosen Befehlsempfängern zu erziehen, die jede Anweisung kommentarlos akzeptieren. Es geht vielmehr um Interaktionsfähigkeit, also darum, den Kindern die Möglichkeit an die Hand zu geben, sich innerhalb von Gruppen (und damit letztlich innerhalb der Gesellschaft) so bewegen zu können, dass es sowohl für sie selbst als auch für den Rest der Gruppe von Vorteil ist.
Um diese Interaktionsfähigkeit herzustellen, ist es unbedingt notwendig, sich immer wieder darauf zu besinnen, dass wir es mit Kindern zu tun haben und diese auch als Kinder gesehen und behandelt werden müssen.
Das bedeutet einerseits einen liebe- und rücksichtsvollen Umgang, andererseits aber auch ein erwachsenes Bewusstsein für die Notwendigkeit von Führung und Steuerung, also Autorität in einem durchaus positiven Sinne. Anders gesagt: Kinder müssen Kinder sein dürfen, Erwachsene müssen Erwachsene sein wollen. Diese Voraussetzung für die gesunde Entwicklung zu beziehungs- und arbeitsfähigen Erwachsenen ist bei den Kindern, die unter dem Einfluss der drei Beziehungsstörungen groà werden, nicht gegeben. Sie zurückzuerlangen wäre eine groÃe gesamtgesellschaftliche Leistung, für die die von mir beschriebene Analyse eine wichtige Grundlage sein könnte.
Mehrere Fallbeispiele aus meiner Praxis
Timo, 16 Jahre alt, Gymnasiast, bei der körperlichen Untersuchung. Ich bitte ihn: »Zieh dich bitte aus bis auf die Unterhose.« Sofort folgt die Gegenfrage: »Die Schuhe auch?« Der Jugendliche wirkt bemüht und unwissend. Ich habe in diesem Fall nicht reagiert. Der Jugendliche lässt seine Schuhe an, lässt die Jeans runter rutschen kommt auf mich zu, wie ein Fünfjähriger nach dem Toilettengang.
Nico, 14 Jahre, auf die Frage, warum er in unsere Praxis komme: »Es ist ein Missverständnis. Nicht ich brauche Therapie, meine Mutter braucht dringend Ihre Hilfe. Sie ist völlig hilflos, weià nicht mehr, was sie mit mir machen soll.«
Arndt, 8 Jahre alt, berichtet mir lehrbuchartig seine Tricksereien, die er benutzt, weil er nicht aufräumen möchte. Zunächst fordert ihn die Mutter auf, im Wohnzimmer aufzuräumen, daraufhin geht er hoch ins Kinderzimmer. Wenn
die Mutter ihm ins Kinderzimmer folgt, geht er runter in den Keller. Wenn die Mutter ihm in den Keller folgt, geht er wieder zurück ins Wohnzimmer. Ich frage grundsätzlich immer wieder nach: »Und dann räumst du deine Sachen auf?« Antwort: »Nein, nein, dann gehe ich erst noch in den Garten«. Das Ende vom Lied ist: Arndt räumt gar nicht auf, sondern seine Mutter macht es.
Der Grund für die Vorstellung in der Praxis ist, dass die Mutter sich groÃe Sorgen wegen der hohen Ãngstlichkeit ihres Sohnes macht. Er traue sich bedauerlicherweise auch nicht, in der Schule (2. Klasse) den Vormittag ohne seine Mutter im Klassenraum zu verbringen. Also sitzt die Mutter den gesamten Schulvormittag neben ihm.
Ein Elterngespräch - vom Kind verhindert
Die Mutter von Jonas bittet um ein Gespräch. Jonas hat die Einrichtung gewechselt, da er in seiner letzten Tagesstätte nach Aussage der Mutter von den Erzieherinnen falsch bzw. nicht ausreichend wahrgenommen wurde. Zum vereinbarten Termin bringt die Mutter Jonas mit. Der scheint sehr müde zu sein, lehnt sich immer wieder an die Mutter an und greift in ihr Gesicht. Sie reagiert erst nicht, versucht weiter zu sprechen, unterbricht dann aber und fragt, was er denn
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