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Warum unsere Kinder Tyrannen werden

Titel: Warum unsere Kinder Tyrannen werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Winterhoff
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möchte. Jonas sagt, er sei sehr müde und wolle schlafen. Die Mutter nimmt ihn auf den Schoß, damit er sich an sie kuscheln kann. Danach fährt sie mit der Beschreibung der Situation in der alten Kita fort. Jonas Wünsche und Bedürfnisse seien dort nicht erkannt worden und er sei überfordert gewesen. Währenddessen beginnt Jonas erneut, in ihr Gesicht zu greifen und es zu betasten. Sie nimmt seine Hand zur Seite und weist ihn auf das laufende Gespräch hin. Jonas beginnt zu
weinen, er sei so müde, er müsse liegen. Sie schlägt ihm vor, sich unter den Tisch zu legen und dort zu schlafen. Jonas rollt sich auf ihren Füßen zusammen. Die Mutter fährt mit ihrer Beschreibung fort und erklärt, dass die Müdigkeit, die Jonas zeigt, auch Ausdruck seiner ständigen Überforderung sei. Er müsse eben die Möglichkeit haben, dann zu ruhen, wenn sein Körper das brauche. Jonas beginnt derweil, die Beine seiner Mutter zu streicheln und zu kneten. Sie versucht seine Hände zu greifen, um ihn davon abzuhalten. Sie bittet uns, ob es möglich sei, dass Jonas ein Schaffell, das ihm auch daheim als mobile Schlafstelle dient, mitbringen kann. Inzwischen ist sie aber von Jonas so abgelenkt, dass sie das Gespräch mit dem Hinweis, dies Gespräch sei für Jonas eine zu große Anstrengung, abbricht. Wir vereinbaren einen neuen Termin.

Kapitel 3
    Warum die Psyche eine so wichtige Rolle spielt
    Psyche war eine wunderschöne Königstochter, die Eros, den Sohn der Aphrodite, dermaßen um den Verstand brachte, dass er alles für sie stehen und liegen ließ, um mit ihr zusammen zu sein, obwohl er sie auf Geheiß seiner Mutter eigentlich einem hässlichen Manne zuführen sollte, um Psyche als Konkurrentin der Aphrodite aus dem Felde zu schlagen. So erläutert der griechische Mythos die Figur, die dem Phänomen seinen Namen verlieh, mit dem sich in der modernen Welt sowohl Psychologie als auch Psychiatrie auseinandersetzen.
    Allein der Begriff der Psyche hat bis heute etwas Geheimnisvolles an sich. Psyche gilt ganz grundsätzlich als Gegenpol zum Körper, es handelt sich also im ganz wörtlichen Sinne um den Unterschied zwischen etwas (an-)Fassbarem (dem Körper) und etwas (un-)Fassbarem (der Psyche). Der griechische Ursprung des Wortes »psychein« bedeutet soviel wie »Hauch« oder auch »Atem«, später wurde die Bedeutung abstrahiert und, da der Mensch nur lebt, wenn er atmen kann, mit dem Prinzip des Lebens gleichgesetzt.
    Lebensprinzip, jedoch un-fassbar. Dieser Antagonismus bestimmt unsere Definition der Psyche. Einfacher ausgedrückt: Psyche kann man nicht sehen, nicht anfassen, nicht auf dem Labor-Tisch in Einzelteile zerlegen, sezieren und analysieren.

    Diese Schwierigkeit muss man vor Augen haben, wenn man versucht, die Psyche als Grundlage der Probleme zu beschreiben, die mit Kindern und Jugendlichen heute auftreten und die gesellschaftliche Entwicklung in erheblichem Maße negativ beeinflussen.
    Das Problem, vor dem wir stehen, ist also zunächst einmal, dass man Psyche nicht sehen kann, wie etwa eine krankhafte äußerliche Störung am Körper. Äußere Verletzungen bluten, zeigen erkennbare Wunden und machen die Beeinträchtigung der Funktionstüchtigkeit des Menschen, der diese Verletzungen hat, offensichtlich. Psychische Fehlentwicklungen sind nicht greifbar und in einer Welt, die nur glaubt, was sie sieht, nicht als »Wunde« akzeptiert.
    Dazu kommt die Vorstellung, Psyche entwickele sich quasi von alleine, jeder Mensch habe eine Psyche und könne, je nach Altersstufe, über bestimmte Funktionalitäten selbstverständlich verfügen. Das ist falsch, denn die positiven psychischen Funktionen, um die es mir geht, bilden sich erst im Laufe der Kindheit aus, und zwar keineswegs automatisch und ohne Einfluss der Umwelt, sondern - im Gegenteil - zunächst einmal vor allem auch dadurch, dass die kindliche Psyche ein erwachsenes Gegenüber als Begrenzung der eigenen Individualität wahrnimmt. Das ist ein sehr zentraler Punkt, der mich u. a. zum Bild der »Nervenzelle Mensch« geführt hat, das ich im Kapitel über die dritte Beziehungsstörung der Symbiose näher beschreibe.
    Mit zunehmendem Alter wird es dann immer wichtiger, dass an die Stelle der Begrenzung das Vorbild tritt, Kinder also psychische Funktionen etwa bei ihren Eltern erkennen und diese durch ständiges Training

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