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Warum unsere Kinder Tyrannen werden

Titel: Warum unsere Kinder Tyrannen werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Winterhoff
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bei sich selbst reifen lassen können.

    Gesteuert wird das Reifen dieser psychischen Funktionen neurologisch gesehen durch Nervenzellen, so wie sämtliche Prozesse im Körper eines Menschen durch einzelne Nervenzellen ausgelöst werden. Die Funktionsweise dieser Nervenzellen folgt einem einfachen System: Die Nervenzelle, die einem bestimmten Reiz ausgesetzt wird, kann nur entscheiden: »kenne ich« oder »kenne ich nicht«: Sie reagiert also nach einem schlichten dualen Prinzip. Befindet sich eine Nervenzelle im »kenne ich nicht«-Zustand, kann sie durch einen bestimmten Reiz aktiviert werden und ab diesem Zeitpunkt für eine ganz eng definierte Aufgabe zuständig sein.
    Als plastisches Beispiel kann uns das Lesezentrum im Hirn dienen. Hier werden nach dem Zufallsprinzip einzelne Nervenzellen für einzelne Buchstaben mit Zuständigkeit ausgestattet. Eine Nervenzelle, die auf diese Weise aktiviert wurde, muss sich in den nächsten Jahren hochgradig spezialisieren, »ihren« Buchstaben immer wiederzuerkennen, und zwar sowohl in gedruckter Form als auch in den unterschiedlichsten Handschriften, so dass im Erwachsenenalter der Buchstabe unbewusst ganz selbstverständlich gelesen werden kann.
    Entscheidend ist, dass die Leistungsfähigkeit der Nervenzelle von der Häufigkeit der Durchläufe abhängt, mit der sie auf ihre spezifische Funktion hin trainiert wird. Je mehr Training, desto automatisierter die Abläufe, die die Zelle zu leisten hat.
    Das gilt uneingeschränkt auch für diejenigen Nervenzellen, die ihre Funktion im Bereich der Psyche erfüllen. Nur durch ständiges Training und zahllose wiederholte Durchläufe des gleichen Vorgangs ist es möglich, als Erwachsener die notwendigen psychischen Funktionen erlangt zu haben, die unabdingbar sind, um als in gesellschaftliche Prozesse eingebundenes Wesen existieren zu können.

    Wenn hier von psychischen Funktionen die Rede ist, spreche ich grundsätzlich nur von solchen, die durch den Umgang der Erwachsenen mit Kindern gebildet werden können. Daneben gibt es eine ganze Reihe angeborener und vererbter individueller Anteile der Psyche, die für mich als Psychiater jedoch geringe Relevanz haben, da sie unveränderbar sind und für die bei meiner Arbeit wichtigen Störungsbilder keine Rolle spielen.
    Kinder können sich nur über den emotionalen Bezug und eine entsprechende Bindung an ihre Eltern optimal entwickeln. Beziehungsfähige Kinder entwickeln sich somit zunächst einmal für ihre Eltern. Das bedeutet ganz konkret etwa, dass ein Fünfjähriger, der beim Tischdecken hilft, dies nicht funktional tut, also nicht, um die Voraussetzungen zu schaffen, damit anschließend gegessen werden kann, sondern er tut es ausschließlich für seine Eltern. Genauso lernt das Kind in der Schule für den Lehrer und - noch - nicht für das Leben (das folgt erst in einer höheren Altersstufe).
    Es ist wichtig, dass eine Spiegelung des Kindes maßgeblich durch die Eltern mit den entsprechenden Emotionen erfolgt. Die Spiegelung ist in der psychoanalytischen Praxis ein wichtiges Arbeitsmittel, bei dem die Verhaltensweise eines der Gesprächspartner erörtert wird, indem sein Gegenüber dessen Perspektive einnimmt. Auf diese Art und Weise bekommt die Person, deren Problem analysiert werden soll, quasi einen äußeren Zugang zu sich selbst und kann eigene Fehler erkennen. In unserem Zusammenhang bedeutet das nichts anderes, als das deutliche Zeigen positiver und negativer Reaktionen auf das Verhalten des Kindes. Das heißt also konkret, dass ich mich über ein positives Verhalten meines Kindes deutlich erkennbar freue und bei einem negativen Verhalten genauso deutlich meinen Ärger zeige, beispielsweise auch durch den Tonfall in meiner
Stimme. Dabei ist stets der Grundsatz zu beachten, dass die Bezugsperson des Kindes in ihren Reaktionen möglichst gleich und eindeutig sein sollte, denn umso schneller und besser wird das Kind aus der Spiegelung lernen können. Ein positiver Nebeneffekt, der quasi automatisch eintritt, ist der, dass ich dem Kind damit auch Sicherheit vermittle, während es bei einer sehr wechselhaften Reaktionsweise zu einer Irritation des Kindes kommen kann, die eine fehlende Aktivierung der entsprechenden psychischen Funktionen zur Folge hat.
    In den ersten Lebensjahren ist es vor allem wichtig, dem Kind die Möglichkeit zu geben, Gefühle des

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