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Was am See geschah

Was am See geschah

Titel: Was am See geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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weiterzusprechen. Sims schüttelte nur den Kopf über Sams Dummheit.
    Doch als Sam auch jetzt noch nicht mit der Wimper zuckte, geschweige denn antwortete, stand Sims auf, beugte sich mit geballten Fäusten über seinen Schreibtisch und bellte ihn fast an. »Jetzt hören Sie mir mal zu! Die Akte Alonzo ist geschlossen. Es kümmert mich einen feuchten Dreck, ob sie aus La Porte stammt, da das Gerichtsgebäude geputzt hat oder eine Freundin von Ihnen war. Der Fall ist abgeschlossen. Und jetzt verschwinden Sie - er fuchtelte mit dem Arm herum, diese undefinierbare Geste sollte wohl »Raus hier!« heißen -, »und tun Sie endlich mal was Nützliches. Schleppen Sie Ihren Hilfssheriff Donny Dawg mal raus zum Red Barn, und waschen Sie da die Zuckerdosen aus.« Sein Gesicht war purpurn gefleckt.
    Sam nickte und wandte sich ab.
    »Haben Sie verstanden?«
    »Ich hab Sie verstanden, Herr Bürgermeister«, sagte Sam mit einer Stimme, die keinerlei Emotion verriet.
    Sam war schon zu viele Jahre Sheriff hier, um auch nur einen Gedanken an Bürgermeister Sims Charakter oder seine Drohungen zu verschwenden; er war eine feste Einrichtung, genau wie die Pumpe vor dem Gerichtsgebäude, ein Kleinstadtrelikt, ein Stück Geschichte, auf das die Leute genausowenig verzichten wollten wie auf den Umzug am Labor Day.
    Er war der Boß. Sam lächelte.
    Er hörte Stimmen, die eines Mannes und die Bunnys - Bunnys piepsende, unendlich überrascht klingende Stimme -, und schaute durch die Kiefernzweige. Bunny stand mit ihrem Kunden auf der winzigen, schiefen Holzveranda und scheuchte fuchtelnd die Mücken fort, die hereingeflattert waren, als sie das Licht angeknipst hatte. Glühwürmchen tummelten sich über der schütteren Wiese, und wie ein Gazeschleier hingen Moskitos über den Wasserlöchern. Der Mann schlug sich klatschend auf den Nacken und machte irgendeine anzügliche Bemerkung. Dann lachte er.
    Sam beobachtete Bunny Caruso, wie sie in ihrem langen, weiten Kleid dastand - ihrem »Mediumskleid«.
    Er dachte dabei nicht an lockere Vögel oder leichte Mädchen; er dachte an Außenseiterinnen.
    Tony Perry hatte ihre zwei Kinder alleine großgezogen, war nie verheiratet gewesen, hatte mit anderen Leuten - abgesehen von den vielen Männern, mit denen sie ins Bett stieg - wenig zu tun. Sam runzelte die Stirn.
    Eunice Hayden entsprach ebensowenig seiner Vorstellung von einem »leichten Mädchen«. Was Eunice in den letzten Monaten vor ihrem Tod auch getan hatte, Sam hatte sie immer noch als das verwaschene junge Ding vor Augen, das er wie eine Schiffbrüchige, wie eine Ausgesetzte an der Ecke Tremont und First Street hatte stehen sehen.
    »Sie hat nicht leicht Freundschaften geschlossen«, hatte ihre Mutter gesagt und wahrscheinlich gemeint, daß Loreen als junges Mädchen überhaupt keine Freunde hatte. Vielleicht war das Mädchen gescheit gewesen; vielleicht auch nicht. Gescheit zu sein kann einen in diesem Alter sozial erledigen.
    Bunny Caruso, die auf der vorderen Veranda kicherte, war immer der Schuldepp gewesen, sie war oft gehänselt worden und blieb immer an den äußersten Rand der Gruppen verbannt. Wurde von ihrem ersten Chef gefeuert und vom nächsten auch; einige Bewohner von La Porte brachten ihr schon lange, bevor sie ihre »wahre Berufung« fand, nur Verachtung entgegen. Eine Außenseiterin, um das mindeste zu sagen.
    Willow Pauley, die an Agoraphobie litt und sehr zurückgezogen lebte, hatte berichtet, daß jemand ihr Haus beobachte: ein Mann in den Bäumen. »Schwingt er sich von den Bäumen herunter, Willow?« Noch eine alleinlebende Frau; noch eine Außenseiterin.
    Und Sams liebste Außenseiterin: Maud Chadwick.

2
    E r hat sie durch die Bäume beobachtet.
    Die Erinnerung daran, wie er sie durch die Bäume beobachtete, stieg in ihm auf wie dicker schwarzer Rauch. Wenn er sie nicht bekam, würde er ersticken.
    Wie er jetzt mit seiner Schublade voller Messer dasaß, merkte er, daß er nach Luft schnappte.
    Er war mit dem Daumen über jede einzelne Klinge gefahren, um das Messer zu wählen, bei dem bei der leisesten Berührung Blut sichtbar wurde. Die Klinge seines Jagdmessers - seines Lieblingsmessers - streifte er kaum; er zog es behutsam und zart über den Daumen, bis der Blutfaden auf der Oberfläche erschien.
    Sein Atem beruhigte sich.
    Briefe, hatte er gerade gedacht, bedeuteten schlechte Nachrichten. Einer hatte auf dem kalten bauchigen Ofen gestanden, und er war nicht einmal an ihn gerichtet, sondern an diesen erbärmlichen

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