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Was danach geschah

Was danach geschah

Titel: Was danach geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kimmel
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Römer, und nach zweitausend Jahren, in denen sie versuchten, es zurückzubekommen, merkten sie, dass sie eine neue Geschichte erfinden mussten. Die Juden sind ziemlich schlaue Leute. Ihre neue Geschichte ist genau das Gegenteil der ersten. Diesmal sagen sie, sie hätten Anspruch auf Palästina, weil ihre Feinde sie vernichten wollen und Gott sie nicht beschützen will oder kann. Das ist echt genial. Ein Geniestreich.«
    Otto seufzte. »Das Problem bei deiner Analyse ist, dass sie die Wahrheit sagen. Sie sollten tatsächlich vernichtet werden.«
    Sam schüttelte enttäuscht den Kopf. »Kapierst du das denn nicht? Es geht hier nur um Glaube, Otto, nicht um Wahrheit. Ob der Holocaust tatsächlich geschehen ist oder nicht, spielt keine größere Rolle als die Frage, ob Gott tatsächlich Abraham ein Versprechen gegeben hat oder nicht. Schwarz in Weiß und Weiß in Schwarz. Die Frage im Moment lautet: Welche Rolle spielen die Deutschen und die Familie Rabun aus Kamenz in dieser neuen Geschichte? Ich sage dir, welche. Sie brandmarken euch als üble, verabscheuungswürdige Schlächter, denen man nicht trauen kann, und als Inkarnation des Bösen. Überall sprießen Holocaust-Museen aus dem Boden, um jedem Kind von nun an bis in alle Ewigkeit zu erzählen, wie abscheulich und unmenschlich ihr seid. Und welche Rolle spielt mein Volk, das Volk der Palästinenser, in dieser Geschichte, das in dem Land lebte, das die Alliierten ihm wegnahm und den Juden gab? Wir sind sogar noch weniger wert als die Deutschen! Wir sind es nicht einmal wert, als Volk anerkannt zu werden, das ein Recht auf eine Heimat hat. Wir sind Flüchtlinge, ebenso abscheulich und unmenschlich. Ich habe dir ja gesagt, Deutsche und Araber haben vieles gemeinsam.«
    Otto war fasziniert. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er jemanden kennengelernt, der wie er selbst einen berechtigten Grund hatte, wütend zu sein – jemanden, der genauso viel gelitten hatte wie er selbst, wenn nicht sogar mehr. »Du hast recht«, stimmte er zu. »Du hast absolut recht! Ist das der Grund, warum sich Leute aus eurem Volk auf israelischen Marktplätzen in die Luft jagen? Weil sie euch euer Land weggenommen haben?«
    »Nein.« Sam zündete sich eine Zigarette an und stieß angewidert eine Rauchwolke aus. »Wir begehen diese Selbstmordattentate, weil wir dumm und ungebildet sind und es nicht besser wissen. Damit verletzen wir nur uns selbst, nicht die Juden. Ich habe eine Zeitlang in Libanon mit ihnen trainiert. Sie sind wahnsinnig … aber, das muss ich zu ihrer Verteidigung sagen, es ist das, was Menschen in ihrer Verzweiflung tun. Siehst du irgendwo Juden, die sich in die Luft jagen? Oder Deutsche? Oder sonst jemanden? Natürlich nicht. Klar, die Juden haben zweitausend Jahre daran gearbeitet, um Palästina zurückzubekommen, während wir erst fünfzig Jahre um unser Land kämpfen. Wer weiß, vielleicht haben die Juden im ersten Jahrhundert Selbstmordattentate auf die Römer verübt, als sie verzweifelt waren. Man braucht Zeit, um die Realität und den Weg von hier nach da zu erkennen. Geschichte ist in gleichem Maße abhängig von der Gegenwart wie von der Vergangenheit und hängt mehr von Emotionen als von Tatsachen ab. Geschichte und Wahrheit sind das, was wir in ihnen sehen wollen, Otto. Aber da stecken wir in einem Dilemma. Wie lösen wir das Problem?«
    »Keine Ahnung«, antwortete Otto.
    Sam zwinkerte. »Ich denke, die Antwort liegt direkt vor unserer Nase, Otto. Wir müssen dieselbe Taktik anwenden wie die Juden. Wir brauchen unsere eigene Geschichte. Aber das kann nicht irgendeine sein. Es muss eine große Geschichte sein, die über jeden Glauben erhaben ist – wie Gottes geheimes Versprechen, oder eine Verschwörung, um eine Gruppe von Menschen von der Erdoberfläche verschwinden zu lassen. Wenn du ein großes Ziel erreichen willst, brauchst du eine große Geschichte. Die Geschichten der Juden funktionierten so gut, weil sie von epischem Ausmaß sind, völlig phantastisch und so unglaublich unglaubhaft, dass eigentlich niemand so einen Schwachsinn erzählen würde, es sei denn, es wäre wirklich wahr.«
    »Moment mal«, hielt Otto ihn verwirrt auf. »Hast du nicht gerade gesagt, das wäre gelogen?«
    »Nein«, antwortete Sam. »Ich sagte, die Wahrheit ist irrelevant. Es geht nur um Glaube. Die Wahrheit ist das, was die Menschen dafür halten. Als jeder an die Geschichte glaubte, dass Gott das Gelobte Land Abraham versprochen hatte, wurde das ihre Wahrheit, und die

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