Was danach geschah
führte er die Mutter zur Lichtung, um die Leiche ihres toten Mannes zu bergen. Des Deutschen nicht mächtig, versuchte er, sie so gut er konnte zu trösten, und zeigte auf die Leichen der Menschen aus dem Nachbarhaus, um zu erklären, dass ihr Mann sich tapfer den Soldaten entgegengestellt und versucht hatte, sie zu retten. Schließlich verstand die Mutter, was Toby sagen wollte, und erfasste erst jetzt, was er getan hatte, um ihre Familie vor demselben Schicksal zu bewahren.
Trotz seiner Wunden trug Toby die Leiche zur Hütte zurück und half den Jungs, ein Grab zu schaufeln. Das Leid der Familie überwältigte ihn, so dass auch er Tränen vergoss, weil er ebenfalls einen Vater verloren hatte. Doch er weinte auch, weil er auf verzweifelte Art eifersüchtig war auf diese Kinder, die ihren Vater zumindest gekannt hatten, ihn beerdigen und sich an ihn als den Vater erinnern konnten, der sie so sehr geliebt hatte, dass er sein Leben für sie und andere geopfert hatte.
Obwohl Toby ihre seltsamen Gebete nicht verstand, wurde ihm klar, dass es jüdische, auf Hebräisch gesprochene Gebete waren, nachdem sich die Söhne Jarmulkes aufgesetzt hatten und niemand das Zeichen des Kreuzes machte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sich die Familie nicht vor den Russen, sondern vor den Deutschen versteckt hatte. Er bekreuzigte sich trotzdem, betete flüsternd für den Toten, für seinen eigenen Vater und für die ganze Welt. Als die vor Trauer hysterische Tochter sah, dass Toby sich bekreuzigte, wimmerte sie immer wieder »Amina! Amina! Amina!«. Sie zog ein kleines, goldenes Kreuz aus ihrer Tasche und bekreuzigte sich ebenfalls. Erschreckt holte die Mutter aus, um sie zu ohrfeigen, doch plötzlich schien sie verstanden zu haben. Sie senkte den Kopf und weinte noch heftiger. Toby hingegen verstand überhaupt nicht, was zwischen Mutter und Tochter geschehen war, sondern half ihnen, das Grab zu füllen.
Die Gruppe machte sich auf den Weg Richtung Leipzig, wo Toby alliierte Truppen zu finden hoffte. In Riesa stießen sie auf eine Einheit der amerikanischen Infanterie, der Toby etwas Geld zustecken konnte, um sich und die Familie mit einem Laster weiter westlich ins Gebiet der Alliierten bringen zu lassen. Sie fuhren bis Nürnberg, wo sie in ein Feldlazarett gebracht wurden. Dort erhielt Toby endlich die medizinische Versorgung, die sein Bein vor einer Amputation rettete.
Bei der Verabschiedung im Krankenhaus war die Mutter peinlich berührt, weil sie Tobys Großzügigkeit nicht erwidern konnte. Doch plötzlich begannen ihre Augen zu leuchten. Sie flüsterte ihrer Tochter etwas zu und bat eine Krankenschwester um einen Zettel und einen Stift. Vorsichtig schrieb sie den Nachnamen von Tobys Hemd ab, B-O-W-L-E-S, und sagte zu ihm auf Deutsch: »Mein erstes Enkelkind wird nach dir benannt werden.« Zur Erklärung ihrer Worte hielt sie den Zettel mit seinem Namen an den Bauch ihrer Tochter, richtete ihren Zeigefinger nach oben als Zeichen für ihr erstes Enkelkind und bewegte die Arme, als hielte sie einen Säugling. Den Zettel drückte sie ihrer Tochter in die Hand. Als Toby verstanden hatte, was sie zu sagen versuchte, umarmte er die beiden zum Abschied.
Plötzlich verschwand das Krankenhaus, und wir standen wieder im Gerichtssaal. Ich war erstaunt über das, was ich gesehen hatte.
Luas und Haissem führten mich nach draußen. »Du siehst also, Brek, Toby Bowles führte ein anständiges Leben«, sagte Haissem im Flur, während Luas den Gerichtssaal abschloss. »Es ist alles nur eine Frage des Blickwinkels.«
»Aber was ist mit der Gerichtsverhandlung über seine Seele?«, fragte ich beunruhigt wegen der augenfälligen Ungerechtigkeit, von der die Verhandlung geprägt war. »Keiner dieser Beweise wurde während der Verhandlung vorgebracht. Offenbar ist das Urteil ungerecht. Wirst du nichts dagegen unternehmen?«
»Wie schon gesagt, es geht nicht um die Frage von Gerechtigkeit«, erwiderte Haissem.
»Und wieder muss ich widersprechen«, meldete sich Luas zu Wort. »Dies ist sehr wohl eine Frage von Gerechtigkeit. Es wurde für Gerechtigkeit gesorgt. Aber es steht uns nicht zu, darüber zu urteilen.«
»Aber können wir nicht einen Antrag stellen wegen fehlerhaft geführtem Prozess oder eine Berufung einlegen?«, flehte ich. »Wir können doch nicht einfach nichts tun. Wenn dieses Urteil Bestand hat, ist das Jüngste Gericht nichts anderes als Scharlatanerie. Wo sind wir denn hier? Der Angeklagte wird zur Verhandlung, die vor
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