Was dein Herz nicht weiß
angezündet, an der sie nun abwechselnd zogen. Die Ausgangssperre hatte schon begonnen, und niemand war mehr draußen. Die Neonschilder der Cafés, Nudelrestaurants, Musikhallen und Schönheitssalons, die den ganzen Abend geblinkt hatten, waren ausgeschaltet. Soo-Ja nahm die Zigarette, inhalierte und steckte sie Yul wieder zwischen die Lippen. Dabei berührte sie mit den Fingern seinen Mund und hielt sie dort, während er einatmete. Er machte einen Zug, dann nahm sie die Zigarette wieder an sich.
»Mag Eun-Mee das Haus auch?«, wollte Soo-Ja wissen.
»Ja, besonders den Kühlschrank.«
»Es erleichtert einem vermutlich die Hausarbeit, wenn man nicht jeden Tag auf den Markt gehen muss.«
»Wir haben ein Hausmädchen. Eine junge Frau vom Land.«
»Oh.«
»Eun-Mee mag alles an dem Haus, bis auf ein paar Bilder. Sie hasst die Tuschezeichnungen, die ich aufgehängt habe. Sie möchte westliche Kunst, farbenfroh und lebhaft. Aber ich werde meine Zeichnungen nicht abnehmen.«
»Tuschezeichnungen? Wer ist denn der Künstler?«
»In Wahrheit ist es nur ein Bild. Es ist die Zeichnung der Pflaumenblüten, die du mir geschenkt hast, damals, 1960.«
»Die hast du noch?«
»Überrascht dich das?«
»Ja.« Soo-Ja konnte ihre Freude nicht verbergen. »Das ist so lange her, dass ich dachte, sie sei verloren oder zerstört.«
»Nein. Sie ist noch so, wie sie damals war. Unversehrt. Und unverändert.«
Soo-Ja dachte an die Pflaumenblüten. An die fast zärtliche Weise, wie die langen, dunklen Blätter den Weg zu den kleinen, runden Blüten freigaben. »Die Pflaumenblüte verbindet man mit dem Frühling, einer Zeit der Hoffnung. Die Pflanze ist ein Symbol für Durchhaltevermögen.«
»Wenn du möchtest, gebe ich sie dir zurück«, sagte Yul.
»Nein. Behalt sie«, antwortete Soo-Ja lächelnd. Sie betrachtete den Himmel. Einen Augenblick lang schien es ihr, als könnte sie sehen, wie die Sterne sich gruppierten, wie sie Stängel, Blätter und Blütenknospen bildeten. Es war, als säße Soo-Ja wieder vor einem Blatt Papier, und ihre Pinselstriche formten verschiedene Sternbilder. Als sie wieder zu Yul blickte, sah sie, dass er sie gespannt ansah. Sie erriet seine Gedanken.
»Nein, Yul.«
»Woher weißt du, was ich gerade denke?«
»Von der Art, wie du auf meine Lippen starrst«, erklärte Soo-Ja.
»Der Mund ist doch zum Küssen gemacht.«
»Aber auch zum Reden.«
»Es braucht ja nicht dein Mund zu sein. Ich könnte ja auch deine Schultern küssen«, sagte Yul und strich mit den Lippen flüchtig über ihre bedeckten Schultern. »Und deinen Hals und deine Ohren und deine Nase.« Er küsste sie auf jeden dieser Körperteile, und sie spürte, wie ein zarter Schauer sie überlief. Soo-Ja schloss die Augen und ließ zu, dass er sanft seine Lippen auf ihre spröde Haut drückte. Er legte seine Hand auf ihre – halb schwebend, halb berührend – und sie empfand ihr Gewicht gleichzeitig als beängstigend und beruhigend. Sie wusste, was sie da taten, war falsch – diese Nähe, der sie sich hingaben – , aber die Nacht hatte etwas Unwirkliches an sich, das Versprechen des Vergessens. Mit geschlossenen Augen stellte Soo-Ja sich vor, wie Yul sie küsste. Er würde sie küssen wie ein Seufzer, und seine Liebe würde ihre Lunge füllen. Als er es aber tatsächlich versuchte, öffnete sie die Augen und wich zurück. Er verharrte auf halbem Weg – heimatlos, verwaist. Es tat weh, Nein zu sagen, wo sie doch nichts mehr wollte als ihn in den Armen zu halten und von ihm in den Armen gehalten zu werden, zu küssen und geküsst zu werden. Soo-Ja erwartete, dass Yul wieder hineingehen würde, aber er blieb stehen, ganz nah bei ihr. Sie waren wie Teenager, die nicht wussten, was sie mit ihren Lippen und Armen und Hüften tun sollten. Schweigend standen sie da, Seite an Seite, und lehnten sich aneinander. Soo-Ja legte ihren Kopf auf Yuls Schulter.
In der nächsten Nacht trafen sich Soo-Ja und Yul wieder. Dieses Mal wurden sie waghalsig und beschlossen, die Ausgangssperre zu missachten. Wie Teenager schlüpften sie aus dem Hotel und spähten nach Polizisten in der Umgebung. Anfangs bewegten sie sich noch ein wenig verstohlen und blickten sich ständig um. Aber dann merkten sie, dass die Straßen leer waren, und liefen mit langsamen und entspannten Schritten, vorbei an farbenfrohen Spielzeuggeschäften und Süßigkeitenläden, alle so gebaut, dass kein Zentimeter Luft zwischen ihnen war. Sie besahen sich ihre Umgebung mit der Neugier
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