Was dein Herz nicht weiß
einfach nicht wahr. Er ist ein guter Mensch. Sag bitte nichts Schlechtes über Yul«, schloss Soo-Ja, und ihr wurde klar, dass sie keine Gelegenheit mehr bekommen würde, ihm zu danken. Sie musste ihren Dank schlicht auf die lange Liste der Dinge setzen, die sie ihm niemals würde sagen können.
15
Jetzt, wo Yul fort war, musste Soo-Ja noch öfter als zuvor an ihn denken. Sie stellte sich vor, wie er neben ihr stand und sie auf seine ganz eigene Art traurig und zugleich hoffnungsvoll anlächelte, während sie die banalsten Arbeiten erledigte. Warum darf ich nicht mit Yul zusammen sein, wo sich doch der Schmerz seiner Abwesenheit wie ein Loch in mein Herz frisst?
Soo-Ja konnte niemandem von ihren Gefühlen erzählen. Yul war ein Geheimnis, so wie jede große Liebe auf gewisse Weise ein Geheimnis war. Wenn sie in sich hineinhorchte, dann konnte sie die Worte klar und deutlich vernehmen: Du hast nicht mit ihm abgeschlossen, und er hat nicht mit dir abgeschlossen. Selbst wenn ihr wolltet, könntet ihr euer Verlangen nicht unterdrücken. Und diese Gedanken führten sie automatisch zu der Person, die diese Verbindung zwischen ihnen gekappt wissen wollte: Eun-Mee.
»Mutter von Hana, was machst du heute Nachmittag? Heute ist Samstag, und morgen ist das Neujahrsfest. Da arbeitest du doch sicher nicht!« Eun-Mee stand vor Soo-Ja. Sie trug einen Pelzmantel, darunter ein besticktes rosafarbenes Oberteil und einen langen, weich fallenden Rock. Verblüfft über Eun-Mees plötzliches Auftauchen legte Soo-Ja das Gästebuch weg.
»Frohes neues Jahr«, sagte Soo-Ja trocken.
»Frohes neues Jahr«, wiederholte Eun-Mee. »Vielleicht wollt ihr ja den Massen zuvorkommen und früher nach Daegu aufbrechen, aber ich möchte dich und deinen Mann gern zum Tee einladen. Wir könnten das Neujahrsfest zusammen feiern. Ich habe dir so viel von unserem Haus und den Handwerksarbeiten erzählt, du stirbst sicher vor Neugier!«
»Du lädst mich zu euch nach Hause ein?«, fragte Soo-Ja ungläubig. Sie hatte schon früher den Fehler gemacht, Eun-Mee zu vertrauen, und würde nicht noch einmal auf sie hereinfallen.
Eun-Mee ließ sich nichts anmerken und tat, als könnte sie sich nicht vorstellen, warum sie einen unpassenden Vorschlag gemacht hatte. »Ja. Auf diese Weise können wir uns richtig von euch verabschieden, nachdem wir so überstürzt aus dem Hotel ausgezogen sind. Wir möchten euch für eure Gastfreundschaft danken. Ich bin sehr froh, dass wir in eurem Hotel wohnen und dich kennenlernen konnten, das war sehr … aufschlussreich.«
Soo-Ja schlug das Gästebuch wieder auf und konzentrierte sich auf die Einträge, weil sie nichts Unhöfliches sagen wollte. »Ich danke dir für die Einladung, aber ich glaube nicht, dass wir kommen können. Ich muss noch so viel einkaufen, bevor ich über den Feiertag zu meinen Eltern reise.«
»Ach, Mutter von Hana, bist du denn gar nicht neugierig auf unser Haus? Es braucht ja nicht lange zu dauern, wir trinken bloß ein Tässchen Tee zusammen. Ich weiß ja, dass es ein paar … Spannungen gegeben hat während meines Aufenthalts, aber ich bin doch kein Unmensch. Bitte gib mir Gelegenheit, dir das zu beweisen und alles wieder gutzumachen. Ich möchte nicht, dass wir im Streit auseinandergehen.«
Soo-Ja wusste nicht, was Eun-Mee wirklich im Schilde führte. Jedenfalls glaubte sie ihr kein Wort. Sie ahnte jedoch, dass ihre Gefühle füreinander komplizierter waren, als beide jemals zugegeben hätten. Soo-Ja vermutete, dass Eun-Mee sie hasste, diesen Hass als unschöne Gefühlsregung aber nicht zulassen konnte und darum versuchte, ihn zu kompensieren. Eun-Mee wollte Soo-Ja hassen und gleichzeitig von ihr gemocht werden.
Doch bei der Einladung würde auch Yul anwesend sein, und diese Gelegenheit, ihm nahe zu sein, konnte Soo-Ja sich einfach nicht entgehen lassen. Sie wollte ihn sehen, und wenn das nur ging, indem Eun-Mee die Bedingungen diktierte, dann war es eben so. Sie würde wachsam bleiben und sich nicht von ihr einwickeln lassen. Soo-Ja rief Fräulein Hong und ignorierte Mins verwirrte Blicke, als sie ihr erklärte, was während ihrer Abwesenheit zu tun war.
Und so kam es, dass man sich vor dem Hotel traf, um gemeinsam zu Eun-Mees und Yuls neuem Haus zu gehen. Es lag ganz in der Nähe, erklärte Eun-Mee, nur vier Blocks vom New-World-Einkaufszentrum entfernt. Eigentlich war es zu kalt, um zu Fuß zu gehen, aber die Straßen waren voll mit Menschen, die sich für das Neujahrsfest in Stimmung brachten,
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