Was dein Herz nicht weiß
erschöpft. »Ich gehe nach Hause«, sagte sie mit leicht brüchiger Stimme.
»Gut.« Soo-Ja nickte. »Geh nach Hause und sag deinem Vater, er soll Min erklären, was passiert ist. Min kann kommen und mir helfen, nach unserer Tochter zu suchen. Die Polizisten werden uns ernster nehmen, wenn der Vater des Kindes mit ihnen spricht.«
»Jetzt bist du wirklich übergeschnappt«, sagte Na-yeong mit lauter Stimme. Sie klingt so sehr wie ihre Mutter, dachte Soo-Ja. Das war einer ihrer Lieblingsausdrücke: Michyeoss-eo – übergeschnappt. »Du willst, dass mein Bruder zur Polizei geht? Sie würden ihn auf der Stelle verhaften. Er kann sein Versteck nicht verlassen!«
»Soll ich Hana etwa alleine suchen? Und warum sind deine Mutter und dein Vater nicht hier, um mir zu helfen? Sie ist nicht bloß meine Tochter, sie ist auch ihre Sonjattal !« Soo-Ja wusste, dass die einzigen Menschen, die ihr helfen würden, ihre eigenen Eltern und ihre Brüder waren, aber die lebten drei Zugstunden entfernt, und es war schon Nacht.
»Ich möchte heimgehen! Ich glaube nicht, dass du sie finden wirst!«
Soo-Ja packte Na-yeong wieder am Arm und schüttelte sie durch. »Ich werde Hana finden. Das, was du eben gesagt hast, werde ich vergessen. Wenn ich mich nicht beherrsche, könnte es nämlich passieren, dass ich dich mit bloßen Händen erwürge.«
Na-yeong duckte sich und wandte den Blick ab. Zwei oder drei Leute blieben stehen, um ihren Streit zu verfolgen. Als Soo-Ja sie bemerkte, ließ sie von Na-yeong ab und fragte sie, ob sie ein kleines Mädchen ohne Begleitung gesehen hätten. Doch die Leute schüttelten den Kopf. Dabei bemerkte Soo-Ja zuerst nicht, dass Na-yeong ihr davonlief. Sie hatte das Gefühl, ihr Gesichtsfeld hätte sich auf einen Kreis verengt; alles außerhalb erschien ihr verschwommen.
Die ganze Nacht lief Soo-Ja in den Straßen auf und ab, wandte sich an Fremde, an die sie sich klammerte wie an Bojen im kalten Meer, um doch jedes Mal wieder von ihnen abgewiesen zu werden. Sie schwankte, als die eingebildeten Wellen gegen sie schlugen, konnte kaum noch stehen. Und je verzweifelter sie wurde, desto grausamer und kälter reagierten die Leute um sie herum. Ein paar halbwüchsige Jungen lachten sie aus, und die Besitzer der Imbissbuden begannen, sie von ihren Kunden wegzuscheuchen. Sie war wie eine Bettlerin, flehte ohne jegliche Würde und Selbstachtung, während ihr die Tränen über das Gesicht rannen. Ihre Fragen waren keine Fragen mehr, sondern Aufschreie. Sie musste allen erzählen, dass ihre Tochter verschwunden war, denn der Schmerz in ihr war so groß, und der einzige Weg, ihn zu ertragen, bestand darin, jedem einzelnen Menschen auf der Welt ein Stückchen davon abzugeben.
Ungefähr eine Stunde nach Mitternacht leerte sich der Platz allmählich – die Nudelstandbesitzer packten ihre roten Zelte zusammen, die Obsthändler warfen ihre angeschlagenen Birnen weg, die Betrunkenen trollten sich an einen anderen Ort –, bis keine Menschenseele mehr auf der Straße war. Außer Soo-Ja. Sie schauderte im Wind. Es begann sacht zu schneien, und die Flocken tanzten vor ihren Augen. Am Anfang verhielt der Schnee sich wie ein Freund, der froh war, sie zu sehen. Danach bedeckte er wie ein verschmähter Liebhaber schnell den Boden, machte ihn fest und rutschig. Sie konnte nirgends hingehen und hatte nicht einen einzigen Won in der Tasche. Zu ihren Schwiegereltern konnte sie nicht zurück. Sie durfte den Abstand zwischen sich und ihrer Tochter nicht vergrößern. Aber sie konnte auch nicht lange auf einem Fleck stehen bleiben, denn sie war für dieses kalte Wetter nicht richtig gekleidet und in der beißenden Kälte fühlte sich jeder Atemzug an, als würde sie Eis schlucken. Darum ging Soo-Ja ständig im Kreis, hilflos, ohne Ziel. Schließlich fühlte sie Hände und Füße taub werden und befürchtete, sie würde umfallen, steif wie eine Statue.
Als Soo-Ja nur noch Kraft für fünf weitere Schritte hatte, ging sie stockend zum Eingang von Yuls Praxis am Ende der Straße. Sie fühlte sich schuldig, weil sie noch nicht gewagt hatte, an den Ort zurückzukehren, an dem dieser Albtraum begonnen hatte. Aber jetzt, in der Hoffnung, dass eine Schwester in Rufbereitschaft war, machte Soo-Ja sich auf den Weg und klopfte an die Tür, mit dem bitteren Geschmack von Eis im Mund. Sie wartete einige Sekunden, aber niemand kam. Auch die Schwestern mussten nach Hause gegangen sein. Sie hämmerte gegen die Tür, bis ihre Knöchel fast
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