Was dein Herz nicht weiß
das heißen, du hast sie verloren?«, schrie Soo-Ja.
Die Schwiegermutter packte Soo-Ja am Arm. »Es hat keinen Sinn, hysterisch zu werden. Sie hat es nicht absichtlich getan.«
Soo-Ja schüttelte den Arm der Schwiegermutter ab. »Was ist geschehen, Na-yeong? Wo hast du Hana verloren?«
»Draußen«, entgegnete Na-yeong zitternd, sodass ihre Essstäbchen gegen die Wand der Reisschale schlugen.
Soo-Ja rannte hinaus und rief den Namen ihrer Tochter. »Hana! Hana! Wo bist du?«, brüllte sie in die Dämmerung. Na-yeong folgte ihr, zitternd vor Furcht. Mit irrem Blick sah Soo-Ja sie an und hielt ihre Arme fest. »Sag mir genau, wo du sie zuletzt gesehen hast. Sag es mir ganz genau.«
»Ich … ich bin dir gefolgt«, versuchte Na-yeong zu erklären. Sie schaute zum Haus zurück, als wollte sie sicher sein, dass niemand sie hören konnte. »Ich habe Hana mitgenommen und bin dir gefolgt. Ich wusste, dass du nicht zur Schneiderin gehen würdest, und ich wollte wissen, ob du etwas Schlechtes tun würdest, weil ich dich dann verpetzen wollte … Ach, wenn ich gewusst hätte, dass du bloß zum Arzt gehen wolltest, hätte ich nie … «
»Du bist mir gefolgt? Den ganzen Weg zum Marktplatz? Heißt das, du hast Hana nicht hier verloren, sondern auf dem überfüllten Markt?«
Na-yeong nickte. »Ich wollte sichergehen, dass es wirklich eine Arztpraxis ist, und musste die Straße überqueren, um das Türschild richtig lesen zu können. Also habe ich zu Hana gesagt, sie soll am Bordstein auf mich warten. Ich dachte, das wäre in Ordnung, wenn ich sie nur für wenige Sekunden alleine lassen würde. Ich wollte doch sofort zurückkommen! Also ging ich rüber und versuchte, durch das Fenster in die Praxis zu schauen. Ich sah deinen Hinterkopf im Wartezimmer und wusste, dass du es bist. Da packte mich dieses panische Gefühl, du könntest dich vielleicht umdrehen und mich entdecken. Darum duckte ich mich und rannte zu Hana zurück, so schnell ich konnte. Aber als ich wieder auf der anderen Straßenseite ankam, war sie weg. Ich habe überall nach ihr gesucht und gerufen, aber sie war nirgends zu finden, als wäre sie von Anfang an überhaupt nicht da gewesen … Eine Zeit lang rief ich nach ihr, bis ein Polizist auf mich zukam. Ich sagte zu ihm, dass ich nach nichts Besonderem suchen würde, und lief nach Hause zurück. Ich hatte solche Angst, dass er mich ins Gefängnis stecken würde, wenn er herausbekäme, was ich getan habe!«
Soo-Ja packte Na-yeong an ihrem dünnen, knochigen Arm; er erinnerte sie an einen hölzernen Schöpflöffel und glitt ihr fast aus den Fingern. Sie zwang ihre Schwägerin, mit ihr zu kommen. In den Augen des Mädchens spiegelte sich ihr zorniger Blick.
»Was machst du da?«, winselte Na-yeong. »Lass mich los, Eonni!«
»Wir gehen zum Marktplatz zurück. Du zeigst mir jetzt, wo genau du sie zum letzten Mal gesehen hast.«
»Eonni, es wird schon dunkel. Der Markt ist kein sicherer Ort. Wir können da jetzt nicht hin.«
»Doch, das können wir. Und das werden wir auch tun«, entgegnete Soo-Ja. Sie packte Na-yeongs Arm fester, fast so als wollte sie ihn in zwei Teile brechen. Wenn Na-yeong durch ihre Behandlung blaue Flecke bekäme – Soo-Ja war es nur recht. Dann hätte ihre Schwägerin eine Erinnerung an das, was sie getan hatte.
Soo-Ja musste ihre Angst um Hana unterdrücken, sonst hätte ihr Herz aufgehört zu schlagen. Alles, was sie hören konnte, war eine innere Stimme, die ihrem Kind zurief: Warte auf mich, Hana. Ich komme . Sie hätte lieber ein Bein oder einen Arm hergegeben als ihre Tochter. Durch ihren Kopf kreiste nur ein einziger Gedanke: Ich muss Hana finden. Ich muss Hana finden . Wenn ihr jemand erzählt hätte, ihr Kind befände sich in der Mongolei, hätte sie sich nicht damit aufgehalten, eine Tasche zu packen oder sich umzuziehen, sondern wäre geradewegs losgelaufen.
Na-yeong schaute zum Haus zurück. »Ich sollte es Appa sagen. Ich habe niemandem verraten, was passiert ist. Appa!«, rief Na-yeong laut, in der Hoffnung, den Vater auf sich aufmerksam zu machen. Aber Soo-Ja zog ihre widerstrebende Schwägerin mit sich. »Appa!«
Soo-Ja schleppte Na-yeong weiter, bis die anderen zu weit entfernt waren, um sie zu hören. Auf dem Weg zum Marktplatz im Zentrum der Stadt ließen sie Häuserblock um Häuserblock hinter sich. Die Straßen waren leer. Manche waren nicht geteert; dort dämpfte der getrocknete Schlamm auf dem Boden das Geräusch ihrer schweren Schritte. Der Himmel verdunkelte
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