Was dein Herz nicht weiß
vorsichtig sein. Der Mann hat das Kind seiner Frau gezeigt, als wäre es ein Geschenk. Wahrscheinlich will er es nicht mehr herausgeben. Und die Art, wie er es eilig nach Haus brachte – als würde er es verstecken. Als wüsste er genau, was er da tat.«
Soo-Ja und Yul machten sich auf den Weg zur Sul-jib. Obwohl es schon ziemlich dunkel und der Boden wegen des schmelzenden Schnees rutschig war, liefen sie eilig durch die schmalen, serpentinenartigen Straßen. An den Rändern wuchsen Sträucher mit trockenen Ästen, von denen scharfe Dornen und Stacheln abstanden. Ab und zu wurden sie von einem Wagen oder einem Fahrrad überholt, aber meistens waren sie allein auf der Straße.
Bald würde alles vorbei sein. Es würde Morgen werden – Soo-Ja liebte den Morgen. Früher, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte ihr Vater sich an den heißen Sommertagen in ihr Zimmer geschlichen, während sie noch schlief, und die Fenster geöffnet. Wie der Gott des Windes hatte er die frische Brise hineingelassen, deren Atem sie umhüllte, während sie von Kirschblüten träumte. Ja, bald würde sie mit ihrer Tochter wieder nach Hause kommen, und alles wäre nur noch eine böse Erinnerung.
Es kam Soo-Ja gar nicht in den Sinn, dass sie Hana nicht an dem Ort finden würde, den die alte Frau ihr genannt hatte. Sie empfand völlige Gewissheit. Zum ersten Mal seit zwei Tagen lächelte sie. Yul dagegen wirkte bekümmert. Auf gewisse Weise war es ironisch, dass sie dabei war, Yul zu verlieren, während sie gleichzeitig ihre Tochter wiederbekommen würde. In den letzten vierundzwanzig Stunden, in denen sie herumgetorkelt war wie eine Irrsinnige, war sie in jeder einzelnen Sekunde für Yuls Begleitung dankbar gewesen. Die Art, wie er ihren Arm hielt, wie er sie stützte, wenn sie unsicher ging; er rückte sich nie in den Mittelpunkt, war aber immer da, wie die Sockelleiste an einer Wand.
»Wie kann ich dir deine Hilfe jemals zurückzahlen?«, fragte Soo-Ja ihn, als sie an einer Reihe von geschlossenen Läden vorbeigingen.
»Ich bin schon bezahlt worden. Wenn du Hana findest, ist mir das Lohn genug.«
Soo-Ja seufzte. »Ich bin gerührt, dass du mir geholfen hast. Mehr als das, du hast immer daran geglaubt, dass wir sie finden.«
»Weißt du, wenn die Umstände bei dir zu Hause so schrecklich sind … «
»Das sind sie wirklich. Aber ich werde nicht aufgeben, bloß weil ich dort nicht glücklich bin. Ich muss auch an Hana denken. Sie braucht ihren Vater.«
»Einen Vater, der nicht einmal nach ihr gesucht hat.«
»Ich sagte doch schon … er weiß von nichts. Wenn er es wüsste, würde er sein Versteck sofort verlassen und herkommen.«
Yul nickte. Sie hatten es nicht mehr weit bis zu ihrem Ziel. Beide wussten, dass dies die letzte Gelegenheit sein könnte, um sich auszusprechen.
»Wie ist deine Frau so?«, fragte Soo-Ja und versuchte, ihr Interesse zu verbergen.
Yul zögerte, bevor er antwortete. Soo-Ja wusste, dass er sich fragte, wie sie herausgefunden hatte, dass er verheiratet war. »Sie ist nicht du«, sagte er schließlich.
»Was meinst du damit?« fragte sie.
»Was glaubst du denn?«
Soo-Ja spürte, wie ihre Wangen glühten. »Mir war nicht bewusst, dass du noch Gefühle für mich hast.«
»Natürlich liebe ich dich noch, Soo-Ja. Das hast du doch spätestens gemerkt, als ich Daegu verlassen habe.«
»Was willst du damit sagen? Warum hast du Daegu verlassen?«
»Deinetwegen natürlich«, antwortete Yul.
»Meinetwegen?«
»Ich wollte dich nicht auf dem Markt treffen und mit einem anderen Mann glücklich sehen. Da bin ich nach Pusan gegangen, um der Erinnerung an dich zu entfliehen. Um dich und diesen Teil meines Lebens hinter mir zu lassen. Ich wollte versuchen, alles zu begraben.«
»Das hättest du nicht tun sollen.«
»Warum hast du Min geheiratet und nicht mich?«, platzte Yul plötzlich heraus.
Soo-Ja dachte eine Sekunde lang nach und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, warum. Wahrscheinlich, weil du mir die Wahrheit gesagt hast und mir gegenüber ehrlich warst. Du hättest mich anlügen und betrügen sollen. Weißt du denn nicht, dass man seine künftige Ehefrau nur auf diese Weise findet?«
Soo-Ja wollte noch mehr sagen, aber da merkte sie, dass sie in der richtigen Straße angekommen waren. Sie überflog die Schilder an den Geschäften und fand die Gai-Tan-Bar. Die Lichter waren ausgeschaltet; die Bar war schon geschlossen. Aber sie erinnerte sich daran, was die alte Frau gesagt hatte, und entdeckte
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