Was dein Herz nicht weiß
direkt neben dem Eingang die Tür zum eigentlichen Haus, verborgen hinter einem Tor. Die Leute drinnen schliefen vermutlich.
Soo-Jas Herz begann Purzelbäume zu schlagen, und sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollten. Yul trat ans Gittertor, um daran zu rütteln, aber Soo-Ja hielt ihn zurück. Das würde sie warnen. Sie wusste, dass sie Hana nie wiedersehen würde, wenn sie die Sache falsch anpackten. Wenn sie den Eigentümer der Sul-jib herbeiriefen, könnte er herauskommen und ihnen ins Gesicht sagen: Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, hauen Sie ab . Dann könnte er davonlaufen, in eine andere Stadt umziehen und Hana einen neuen Familiennamen geben. Dieser Gedanke ließ Soo-Ja erschaudern. Es lag in ihrer Hand, jetzt das Richtige zu tun.
Und da wusste sie, was zu tun war. Es war die einfachste Möglichkeit.
Soo-Ja nahm alle Kraft zusammen und rief lauter als der lauteste Pfiff einer Lokomotive: » HANA !« Und dann noch einmal: » HANA! HANA! « Als Echo ertönte die Stimme ihres Kindes, das zurückschrie: »Eomma! Eomma!«
Innerhalb von Sekunden sah Soo-Ja ihre Tochter aus der Tür herausstürzen und zum Tor rennen. Das Kind war vollkommen nackt, wie ein Neugeborenes, die Augen blutunterlaufen vom Weinen und die Wangen rot angeschwollen. Yul hob schnell von außen den Riegel hoch und versuchte, die Gittertür zu öffnen, aber sie gab nicht nach. Soo-Ja streckte die Arme nach ihrem Kind aus, das so nah und doch so fern von ihr war. Hana heulte und schrie herzzerreißend. Dabei stampfte sie die ganze Zeit mit den Füßen auf den Boden und warf verzweifelt die Arme in die Luft.
»Mach das Tor auf! Mach es auf, Yul!«, brüllte Soo-Ja.
Hanas Gesicht war ganz nass vor Tränen, der Mund stand weit offen, Spucke tropfte ihr das Kinn hinab. Schließlich bekam Yul das Schloss doch auf. Als die Tür quietschend aufschwang, stürzte Soo-Ja hinein und zog Hana an sich. Hana floh förmlich in die Arme ihrer Mutter und kletterte an ihr hoch, von entsetzlicher Furcht getrieben. Als sie endlich sicher bei Soo-Ja war, wurden ihre Schreie sogar noch lauter, und ihr kleiner runder Körper begann zu zittern. Soo-Ja wickelte ihren Schal um Hana, während Yul schnell seine Jacke auszog und sie wie eine Decke über das Kind legte.
Jetzt merkte Soo-Ja, dass auch ihre eigenen Wangen mit Tränen benetzt waren. Ihr Herz schlug gegen ihre Brust wie eine Faust. Sie konnte es nicht glauben: Sie hatte Hana zurück. Sie begann zu zittern; endlich suchten sich ihre Gefühle einen Weg nach draußen.
»Eomma! Eomma!«,schrie das Kind zwischen gierigen, hungrigen Atemzügen. Seine kleinen Finger gruben sich in Nacken und Schultern der Mutter, aus Furcht, sie wieder zu verlieren. Hana packte Soo-Jas Bluse, als wollte sie sich daran festkleben. Ihre winzigen Hände waren so angespannt, dass sie zitterten. Obwohl Soo-Ja ihre Tochter ganz fest im Arm hielt, hatte sie noch immer panische Angst.
»Es tut mir so leid, mein Baby, Eomma ist jetzt da, Eomma ist jetzt da!«, rief Soo-Ja beinahe keuchend. Sie schaute ihre Tochter an – ihr Mund war vor Angst verzerrt, und aus ihrer Nase lief Rotz. Aber was Soo-Ja am meisten schmerzte, war der Anblick ihrer Augen, in denen die blanke Furcht geschrieben stand. Vor lauter Scham, ihre Tochter nicht besser beschützt zu haben, bedeckte Soo-Ja ihr eigenes Gesicht mit der freien Hand.
Dann kam ein Mann heraus, gefolgt von zwei Jungen, der eine etwa sechs Jahre alt, der andere ein wenig älter, vielleicht zehn. Wie er so dastand, in Anorak und langen Unterhosen, sah er nicht gerade aus wie ein Kindesentführer. Jetzt sah er Soo-Ja verwirrt an, als könnte er sich partout nicht vorstellen, wer sie war oder was sie um Mitternacht vor seiner Tür zu schaffen hatte.
Yul trat einen Schritt auf ihn zu, um ihm seine Anwesenheit bewusst zu machen. Soo-Ja sah, wie sich die beiden Jungen duckten, und trat zwischen Yul und den Mann. Sie drehte sich zu Yul um und schüttelte den Kopf. Das war ihr Kampf. Hana war ihre Tochter. Wenn jemandem die Genugtuung zustand, diesen Mann in die Mangel zu nehmen, dann nur ihr.
»Wer sind Sie? Was machen Sie hier? Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?«, fragte der Mann.
Soo-Ja konnte ihn jetzt besser sehen: Er war groß, Anfang Vierzig, und blickte sie mit seinen Knopfaugen trübsinnig an. Sein Name war Dae-Jung, wie sie später herausfand. »Ich bin die Mutter dieses Kindes!«, blaffte sie ihn an. »Warum ist sie nackt? Wenn ich herausfinde, dass Sie ihr
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