Was dein Herz nicht weiß
wichtigen.
Sie hatte dieses Gefühl schon einmal gespürt, und nun war es wieder da: Wieder musste sie sich von dem einzigen Mann verabschieden, der ihr wirklich etwas bedeutete. Aber ihr Gefühl trog sie. Denn jedes Mal, wenn sie Yul Auf Wiedersehen sagte, war er ein anderer Mann – einer, den sie sogar noch besser kennengelernt und für den sich ihre Zuneigung noch verstärkt hatte. Jetzt liebte sie ihn, wie eine Frau ihren Mann nach ein paar Jahren Ehe liebte – wenn sie sah, wie freundlich er war, wenn sie beobachtete, wie er mit anderen Leuten umging, wenn sie seine Herzensgüte spürte. Aber er war nicht ihr Ehemann, und sie war nicht seine Frau. Es war falsch, auch nur daran zu denken. Aber was war es, das am Ende zählte? Das Leben, das man vor den Augen anderer Leute verbrachte, oder das Leben, das sich im eigenen Herzen abspielte? Und dort liebte sie ihn und er sie auch. Was konnte sie schon dafür, dass sich dieses Leben so viel realistischer anfühlte? Und dennoch, was immer in dieser anderen, geheimen Version ihres Lebens geschehen mochte – Küsse, Seufzer, Glück – , im wirklichen Leben war Yul nur ein ganz normaler Freund, der jetzt vor ihr stand, unsicher, ob er gehen sollte oder nicht. Vielleicht erinnerte er sich plötzlich daran, dass er Patienten hatte, eine Ehefrau, ein Leben, in das er sich wieder einfügen musste, sobald er ihres verlassen hatte.
»Ich kann dir nicht genug danken«, sagte Soo-Ja mit leiser Stimme. Nebelschwaden umwehten sie, und sie hatte das Gefühl, durch Wolken zu waten. Sie konnte einzelne Umrisse von Ästen und Haustüren sehen, aber keine ganzen Objekte; alles schien zu schweben, licht und wässrig.
»Das brauchst du auch nicht. Wir sind doch Freunde. Und Freunde geben aufeinander acht«, erklärte Yul und streckte den Arm aus, um ihren verdrehten Kragen wieder in Ordnung zu bringen. Dann tätschelte er freundlich Hanas Kopf; sie lag schlafend in Soo-Jas Armen, dick eingepackt in seine Jacke. Soo-Ja wollte ihm die Jacke zurückgeben, aber er schüttelte nur den Kopf.
»Möchtest du hereinkommen und meine Schwiegereltern kennenlernen?«, fragte Soo-Ja. Sogar in der Dunkelheit konnte sie die Traurigkeit in Yuls Gesicht aufwallen und abebben sehen, wie Wellen im Meer.
»Als wen würdest du mich denn vorstellen?«
»Das hängt davon ab«, entgegnete Soo-Ja leise und schaute ihm in die Augen. »Ob ich lügen oder die Wahrheit sagen will.«
Er erwiderte ihren Blick. »Ich finde, man sollte immer die Wahrheit sagen. Außer in Situationen wie dieser.«
Soo-Jas Herz begann zu hüpfen und wurde ihr dann ganz schwer. Aber sie wusste, dass sie kein Recht hatte, enttäuscht zu sein. Sie war es gewesen, die sich von ihm abgewandt hatte, als er sie bat, ihn zu heiraten, die ihn abgewiesen hatte, als er um ihre Hand anhielt und sagte: Versuch es mit mir und werde glücklich.
» Chamara , Soo-Ja. Chamara «, sagte Yul. Chamara. Welches Wort kam dem wohl am nächsten?, fragte sich Soo-Ja. Es durchstehen, es ertragen, die Zähne zusammenbeißen und nicht losweinen? Es aushalten, warten, bis das Schlimmste vorbei ist? Es gab keinen anderen Begriff dafür, keine Übersetzung. Es war nicht nur ein Wort, es war eine Art Trost. Yul wollte ihr damit nicht nur sagen, dass sie den Schmerz ertragen sollte, sondern ihr gleichzeitig die Kraft geben, das auch zu schaffen. Chamara war eine Beschwörungsformel, und wenn Soo-Ja sich ihrem Klang hingab, konnte sie daran glauben, dass es ihr gelingen würde, diese Traurigkeit zu überstehen. Und wenn sie stark bliebe, würde sie am Ende belohnt werden. Es bedeutete so viel wie: Auch ich weiß es, auch ich fühle es. Auch mir zerreißt es das Herz.
9
Als Soo-Ja mit Hana im Arm die Tür aufstieß, triumphierend wie der Kriegsheld Yi Sun-Shin, erwachte das Haus zum Leben, und die Schwiegermutter eilte herbei, um das Licht einzuschalten. Soo-Ja erkannte, dass auch ihre Verwandten die letzten zwei Tage in Sorge gelebt hatten. Und dann entdeckte sie ihn: Min lag auf dem Boden, erst im Halbschlaf, dann hellwach, und streckte die Hände nach seiner Tochter aus. Alle scharten sich um Soo-Ja und Hana. Die Schwiegermutter klatschte in die Hände, und die Jungen warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren, Hana über den Kopf zu streichen. Was für ein seltsames Bild, dachte Soo-Ja. Liebten sie ihre Tochter am Ende mehr, als sie es immer für möglich gehalten hatte? Der Einzige, der fehlte, war der Schwiegervater, doch sie dachte nicht weiter über
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