Was dein Herz nicht weiß
die beiden Frauen gegangen waren, hätte Soo-Ja das Hotel am liebsten für den Rest des Tages geschlossen – und vielleicht für den Rest ihres Lebens. Aber sie wusste, das konnte sie nicht tun. Im Gegensatz zu den Gästen, die gerade gegangen waren, hatte sie nämlich keinen Ehemann, der für sie sorgen konnte. Nur das Land in Gangnam konnte ihr die Freiheit erkaufen.
In diesem Augenblick fragte sich Soo-Ja, ob sie deshalb nach Seoul gegangen war: War sie einfach nur vor ihren alten Klassenkameradinnen geflohen, die sie unweigerlich ständig getroffen hätte, wäre sie in Daegu geblieben? Die Ironie des Ganzen war ihr nicht verborgen geblieben – mehr als zehn Jahre zuvor hatte sie unbedingt nach Seoul gewollt, um auf die Diplomatenschule zu gehen, aber als sie endlich in der Stadt ihrer Träume angekommen war, arbeitete sie als Hotelangestellte. Sie hatte so viele Rechnungen zu zahlen, und das wirkliche Leben lastete wie ein schweres Gewicht auf ihren Schultern. Die Vorstellung, nur eine sorglose Studentin zu sein, klang dagegen wie eine entfernte Fantasie.
Soo-Ja schaute auf die Liste der Gäste, die in Kürze erwartet wurden, und dachte einmal mehr an die Frau, mit der sie am Tag zuvor telefoniert hatte. Eun-Mee Kim. Kannte sie sie? War sie auch mit ihr zur Schule gegangen? Es hätte sie nicht überrascht, wenn Eun-Mee Kim eine alte Klassenkameradin aus der Grundschule gewesen wäre, die mit eigenen Augen sehen wollte, welches Schicksal Soo-Ja Choi, die einstmals stadtbekannte Schönheit, ereilt hatte. Eun-Mee Kim, Eun-Mee Kim.
Soo-Ja sagte den Namen leise vor sich hin, um zu sehen, ob er irgendwelche Erinnerungen wachrief, und es dauerte nur wenige Sekunden, bis ihr klar wurde, wer die Frau war, die jetzt vor ihr Gestalt annahm. Eun-Mee Kim brauchte sich nicht vorzustellen, als sie die Rezeption betrat, gefolgt von Soo-Jas geliebtem Yul höchstpersönlich. Soo-Ja hatte das Gefühl, die Erde hätte aufgehört sich zu drehen, als sie sie zum ersten Mal mit eigenen Augen sah: Yuls Ehefrau.
11
»Das ist doch ein Witz«, erklärte Eun-Mee, sobald sie eingetreten war. Soo-Ja wurde sich plötzlich bewusst, wie einfach ihr Hotel war – zwei Zimmerfarne standen an den Seiten des Tresens, Fenster gab es keine, dafür eine Neonröhre, die das austauschbare Gemälde einer Python und eines Hirsches beleuchtete.
Yuls Frau schien überhaupt nicht an einen solchen Ort zu passen. Ihre ganze Erscheinung war außergewöhnlich: Das lange schwarze Haar trug sie in einem gepflegten französischen Zopf, und ihr hübscher Teint, ihre gerade Nase und ihre großen, durch Mascara zusätzlich betonten Augen machten sie zu einer wahren Schönheit. Sie trug eine Jacke mit auffälligem Goldmuster und dazu einen knallgelben Rock mit weißen Streifen, der ihr gerade bis unter die Knie reichte. Ihre überdimensionierte Handtasche hatte eine raue Oberfläche, vermutlich Eidechsenleder. Yul, der hinter Eun-Mee stand, vermied den direkten Blickkontakt mit Soo-Ja und schaute abwechselnd zu ihr und auf den Boden. Er trug einen schweren grauen Trenchcoat mit einer Reihe silbern glänzender Knöpfe, der vorne durch einen Gürtel geschlossen wurde. Die Hände hielt er die ganze Zeit in den Taschen vergraben.
Yul schien kaum gealtert, seit sie sich vor acht Jahren zum letzten Mal gesehen hatten, aber er musste inzwischen Ende dreißig sein. Seine Haare waren etwas länger geworden, wodurch er beinahe knabenhaft aussah, aber sein Gesicht wirkte hübsch und ernsthaft wie eh und je; es hätte besser zu einem Studentenführer als zu einem Arzt gepasst. Soo-Ja tat so, als hätte sie in den vergangenen Jahren nicht ein einziges Mal an ihn gedacht. Aber das hatte sie natürlich doch, und sie war verblüfft, dass er dem Bild in ihren Träumen so nahekam. Noch immer hatte er diese tiefgründigen Augen, die den Kummer der ganzen Welt in sich zu tragen schienen. Doch wenn er lächelte, verwandelte sich sein ganzes Gesicht, und er bekam Lachfältchen um die Augen.
Soo-Ja hoffte, sie würde einfach nur Freude und Überraschung darüber empfinden, einen alten Freund wiederzusehen – das war er ja offiziell auch: ein entfernter Freund, den man alle zehn Jahre auf einer Hochzeit oder einer Beerdigung traf. Aber stattdessen spürte sie einen Stich im Herzen, und ihre Atemzüge wurden flach. Soo-Ja konnte ihm nicht in die Arme fallen – wenn das zuvor nicht möglich gewesen war, warum glaubte sie dann, es ginge jetzt?
»Hier können wir nicht bleiben! Das
Weitere Kostenlose Bücher