Was deine Augen sagen: Roman (German Edition)
sagten. Minuten, Stunden oder Tage später war sie in dieser Höhle zu sich gekommen.
Sie versuchte, sich aufzurichten, um die Pritsche zu erreichen, doch ihr Körper spielte nicht mit. Sie hatte kein Gefühl in den Beinen, und ein schmerzhaftes Kribbeln in den Armen machte ihr zu schaffen. Sie krümmte sich vor Unterleibskrämpfen, doch obwohl sie ihren Bauch sanft massierte, ließ der Schmerz nicht nach.
»Mein Kind …«, flüsterte sie, und Tränen traten ihr in die Augen.
Sie hatte nach wie vor quälenden Durst und schluckte ihre eigenen Tränen, die aber nichts gegen das brennende Feuer in ihrer Kehle ausrichten konnten. Der Mund schmeckte nach Blut, ein metallischer Geschmack, von dem ihr übel wurde. Sie würde sterben, und mit ihr auch ihr Kind. Die Kräfte verließen sie, sie konnte die Kälte spüren, die sie einhüllte. Trotz der Lampe, die ein paar Meter entfernt brannte, war sie von Dunkelheit umgeben, einer inneren Dunkelheit, die ihr Herz lähmte und ihr die Lust nahm, weiterzukämpfen. Doch einen Funken Hoffnung hatte sie noch, an dem sie sich verzweifelt festzuhalten versuchte. Sie würde niemals aufgeben – bis zum letzten Atemzug würde sie um ihr Leben und das ihres Kindes kämpfen. Für Kamal.
18. Kapitel
Abdel bin Samir gab seinem Kollegen el-Haddar Bescheid, dass er an diesem Morgen nicht mit ihm rechnen könne. Er wolle seine Mutter in einem Vorort von Riad besuchen. El-Haddar nahm die Nachricht gleichgültig auf; er wusste, wie sehr Abdel an der alten Dame hing. Er suchte sie immer auf, wenn er Probleme hatte oder keine Ruhe fand. Und seit sie am Tag zuvor das christliche Mädchen übergeben hatten, wirkte er sonderbar in sich gekehrt.
»Ja, geh nur zu deiner Mutter«, stimmte el-Haddar zu, »vielleicht kann sie dich aufmuntern.«
Abdel ging auf sein Zimmer, vergewisserte sich, dass die 45er geladen war, schraubte den Schalldämpfer auf und schob sie zusammen mit dem Krummdolch in den Gürtel. Da er nicht mit seinem Auto fahren wollte – wahrscheinlich würden Abu Bakrs Männer ihm einige Tage folgen, um zu sehen, ob er vertrauenswürdig war –, passte er den Lastwagen ab, der Baumaterial für den neuen Swimmingpool anlieferte. Er wartete, bis die Arbeiter den Wagen entluden, und während sie die Lieferung in den Hof brachten, kletterte er auf die Ladefläche und zog eine Plane über sich. Einige Minuten später hörte er, wie sich el-Haddar von dem Fahrer verabschiedete, dann fuhr der Lastwagen los. Abdel hob die Plane an, um zu sehen, in welche Richtung sie fuhren: Es ging in die Altstadt. Als der Wagen in der Nähe des Bazars kurz anhielt, kroch er unter der Plane hervor, öffnete leise die Klappe des Lastwagens und sprang aufs Pflaster. Er ging durch die weniger belebten Gassen und betrat das Marktviertel, in dem die Teppichhändler ihre Geschäfte hatten. Er suchte einen ganz bestimmten Laden, der Abu Bakrs Informanten, einem gewissen Fadhir, als Unterschlupf diente. Mit diesem Fadhir hatten sie sich in den Tagen vor der Entführung in Verbindung gesetzt, um die Einzelheiten zu besprechen. Der Mann hatte ihnen nicht gesagt, dass er hier sein Versteck hatte, aber nach dem ersten Treffen in einem Café am Fleischmarkt war el-Haddar so schlau gewesen, ihm zu folgen.
Als er den kleinen Laden betrat, kamen ihm zwei Männer entgegen und forderten ihn wortreich auf, sich die Teppiche anzusehen. Abdel schlug den Umhang zurück, um seine Pistole zu zeigen, und bedeutete ihnen, zu schweigen. Instinktiv wichen die beiden Männer zurück. Der eine versuchte eine Waffe aus der Schreibtischschublade zu holen, aber Abdel zog behände seine 45er und schoss ihm eine Kugel in die Stirn. Der andere, ein schmächtiger Junge, ließ sich neben seinen Kumpan fallen und warf Abdel einen flehenden Blick zu. Der steckte die Waffe ein, nahm eine Vorhangkordel, die auf dem Ladentisch lag, und fesselte ihn an Händen und Füßen. Zusätzlich knebelte er ihn. Dann schloss er die Tür ab und ließ den Laden herunter. Er ging zu dem gefesselten Jungen zurück, kniete neben ihm nieder und fragte leise: »Wo steckt Fadhir?«
Der Junge deutete mit einer Kopfbewegung zum oberen Stock hin. Abdel ging durch den Laden nach hinten, schob einen Vorhang beiseite und erreichte durch einen kleinen Lagerraum die Wendeltreppe, die nach oben führte. Die Treppe war so schmal, dass selbst er mit seiner schlanken Statur kaum hindurchpasste. Auch im oberen Stock befand sich ein Lager; überall stapelten sich Teppiche.
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